Pro und Contra Johanna Ambrosius - der Johanna - Ambrosius - Rummel
Insgesamt sind uns bisher ca. 80 Rezensionen bekannt. Hier finden
Sie eine kleine Auswahl, die demnächst erweitert wird. Verantwortlich
für den "Hype" um Johanna Ambrosius war vor allem
die Rezension ihres ersten Gedichtbandes durch Herman
Grimm, dem Literaturpapst jener Zeit, der sie überschwänglich
als literarische Entdeckung feierte. Die Rezension wurde sogar in
der New York Times in Übersetzung gedruckt und führte
bald darauf zur amerikanischen Übersetzung des Buches. Der Streit
um den Rang ihres Werkes wird am deutlichsten in dem Artikel von Ferdinand Avenarius. Auslöser
war ein Buch des Lehrers Albrecht Goerth: Lyrik-Schwärmerei,
Afterlyrik und Blaustrumpftum; Kritiken u. Studien zu e. Geschichte
d. Dichtkunst. Bd. 1 Johanna Ambrosius, 1896. Goerth warf J. Ambrosius
und ihrem Verleger/Herausgeber vor, der Auflagenerfolg beruhe auf
dem - falschen "Image" der Dichterin als armer, leidenden
Landfrau (z. b. Otto Rühle fasst diese Kritik zusammen.) Dies blieb jedoch nicht unwidersprochen.
In diesen Literaturstreit mischte sich ein grosser Teil der damaligen
Literaturszene ein, allen voran der damalige (und heute ebenfalls
vergessene Poet und Kritiker Karl (Carl) Busse, der
Johanna Ambrosius' Auflagenerfolg ("Johanna Ambrosius - Rummel")
nicht fassen konnte oder wollte (Text folgt demnächst). Selbst Theodor Fontane äußerte sich - vernichtend:
"Die gute liebe Frau hat gewiß viele vortreffliche
Eigenschaften, aber als Dichterin ist sie eine Null. Es ist alles
gar nichts. Ich habe vorgestern (also am 14. August 1896 (wvo))
erst wieder ein Dutzend Sachen gelesen. Wie mir dabei zumut wird,
kann ich Ihnen gar nicht sagen. Die Dichterin selbst ist dabei ganz
Nebensache; aber daß die hervorragendsten Männer der
Nation, oder doch einige davon, im Jahre des Heils 1896 dem deutschen
Volke dies als einen echten Quell deutscher Dichtung vorsetzen wollen,
das ist schauderhaft und beweist aufs neue, wie's auf diesen Punkt
hin in Deutschland aussieht.." Arno Holz stellte sie auf die gleiche - in seinen Augen: niedrige - Stufe
wie Friederike Kempner ("das deutsche Volk interessirte sich für Lyrik nur noch, insofern sie aus den Damen Friederike Kempner und Johanna Ambrosius träufelte." Fundstelle: https://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1898_holz.html). Und Christian Morgenstern schreibt: in der Neue Deutsche Rundschau ("Von
neuer Lyrik") - Auszug: "Wenn ich daran gehe, meine
Revue, die bei Richard Dehmel begann, bei Johanna Ambrosius und
Katharina Koch zu beschließen, bin ich mir heiter der Gegensätze
bewusst, die ich da, über die vorliegenden Erscheinungen berichtend,
unter die Haube eines Aufsatzes zu bringen gezwungen bin. Und doch
kann man kaum sagen: hier steht Naturmensch gegen Kulturmensch.
Denn auch die - verwunderlich glatten - Verse der ostpreußischen
Volksdichterin sprechen allzuoft, wie wohlerzogene Kultur spricht,
die für jedes menschliche Gefühl schon von vornherein
ein Versmaß, einen Bild- oder Gedankengemeinplatz parat hält.
Ich weiß nicht, ob man gut tut, eine Dichterin wie die genannte
als "Naturdichterin" von anderen zu unterscheiden. Jeder
Poet, der ehrlich ausspricht, was ihn bewegt, ist ein Naturdichter,
ja er ist es umsomehr, je ungekünstelter, impulsiver sein Herz
sich entlädt. Das, was dem großen Publikum an der Lyrik
Johanna Ambrosius' gefällt, ist glaube ich gerade die - Kultur
in ihr, das Konventionelle, Altvertraute. Ich würde es mir
nicht verzeihen können, über diese Lebensblätter
eines einsam und ehrenvoll kämpfenden warmherzigen Weibes ein
missgünstiges Wort zu sagen: nicht gegen sie, die zumeist nach
den künstlerisch bescheidenen Vorbildern eines Familienblatts
ihre Leiden und Freuden in wohlgeregelte Strophen fasste, wende
ich irgendeinen Vorwurf, sondern allein gegen diejenigen, welche
bei der Erscheinung einer solchen Dorfpoetin plötzlich vergessen
zu haben scheinen, dass ihr Los kein andres ist, als das vieler
deutscher Dichter von ehedem und heute, und dass ihre schlichten,
innigen Lieder als menschlich schöne Dokumente einer schlichten,
innigen Frauenseele wohl einen stillen, beseligenden Wert haben
und behalten mögen, aber doch schwerlich als eine Tat in unserer
Literatur proklamiert und als sogenannte "Naturpoesie"
nicht überschätzt werden dürfen." Hermann
Sudermann hingegen versuchte - vergeblich - Johanna Ambrosius
in der Berliner Literaturszene einzuführen.
|
bitte klicken Sie auf einen Listeneintrag, um
den Artikel aufzurufen
|
|
|
Herman Grimm: Johanna
Ambrosius [Zum Erscheinen der vierten
Auflage] (1895)
Richard Weitbrecht: Frauenlyrik (1895)
Heinrich Hart: [Zum Erscheinen von
Johanna Ambrosius erstem Gedichtband] (1895)
Anton Bing: [Über Johanna Ambrosius]
(1895)
A. [Ferdinand
Avenarius] Ambrosianische Lehren
Otto Rühle: Johanna Ambrosius. Eine menschliche
Komödie (1897)
Ludwig Goldstein: [Erinnerung
an Johanna Ambrosius] (ca. 1935)
|
Professor Karl Weiß-Schrattenthal
zu Preßburg hat aus Zeitungen die Gedichte einer armen Bäuerin
kennen gelernt, die in einem ostpreußischen Dorfe lebt. Er
hat sich mit ihr in Verbindung gesetzt und eine Anzahl ihrer Dichtungen
drucken lassen. Die erste Auflage dieser Sammlung erschien Weihnachten
1894; Anfang März 1895, nach weniger als drei Monaten also,
ist die vierte Auflage herausgekommen.
Johanna Ambrosius ist eine Feldarbeiterin, die hart mitanfassen
muß, wenn die Wirthschaft nicht zurückgehen soll. Ihre
Gedichte, die sie nur zum eigenen Troste schreibt, erwecken durch
die Tiefe der Weltanschauung und durch ihre Sprachgewalt Staunen,
Bewunderung und herzliche Theilnahme in mir.
Johanna Ambrosius lebt in Groß-Wersmeninken bei Lasdehnen
in Ostpreußen, einem der abgelegensten Dörfer Deutschlands.
Geboren wurde sie in dem kleinen Kirchdorfe Lengwethen (Kreis Ragnit).
Ihr Vater war ein armer Handwerker. Lassen wir ihre ältere
Schwester Martha erzählen:
"Als schönes, kluges Kind einst ist sie geliebt worden,
von Allen, die sie gekannt: der verkörperte Sonnenstrahl. Was
bei ihr Erziehung und Verziehung und all' die häuslichen Verhältnisse
mitgewirkt haben, daß sie wurde wie sie geworden, hat Johanna
vielleicht selbst schon angedeutet (in Briefen nämlich, die
sie an Karl Schrattenthal richtete): ihre sorglose erste Jugend,
wie ihr lebhafter Geist sich selbst überlassen blieb während
dem zarten, ja zierlichen Körper die niedrigsten Land- und
Stallarbeiten aufgebürdet wurden. Noch blickte sie damals mit
zu vertrauensvollen Augen in die der Jugend so schön dünkende
Welt; doch empfanden wir beide schon, wie fremd wir standen in unserer
Umgebung im Dorfe. Es fingen die Seelen an, sich in sich selbst
zurückzuziehen. Aus Johanna's Köpfchen fingen an Funken
zu sprühen. Sehnsucht nach Freiheit, nach Licht, nach Leben
brach sich unwiderstehlich Bahn. Johanna war aus dem von den Eltern
geforderten, Leib und Seele niederdrückenden Gehorsam unvermerkt
herausgewachsen; eigener Wille that oft bei ihr sich kund, und halb
eigenem Willen folgend, halb den schweren Verhältnissen sich
fügend, trat sie in fremde Dienste. Vielleicht hoffte sie draußen
zu finden , was ihre Seele entbehrte. O Täuschung ! So kehrte
sie heim und, um die Freiheit, wie sie meinte, zu finden, reichte
sie ihre Hand einem einfachen, doch guten, wackeren Bauernsohn,
der ihr seit den Kinderjahren treu und leidenschaftlich zugethan
war. Johanna ging mit dem gewählten Manne mit offenen Augen
in die Armuth und die schwerste Arbeit. Stolz und klaglos trug sie
das selbstgewählte Schicksal, bis sie körperlich gebrochen
lag. Daß sie an Niedrigkeit und Armuth gefesselt war, daran
ist meine geliebte arme Schwester zu Grunde gegangen körperlich.
Ihr einziger Gedanke ist freilich nur für ihre beiden Kinder:
für sie noch athmen dürfen, für sie schaffen. Schaffen
mit dem zum Skelett hingewelkten Körper! Gegen jede Bitte um
Vorsicht und Schonung hat sie nur ein müdes Lächeln."
Ein "müdes Lächeln", weil die arme Frau 1890
an der Influenza erkrankte, der eine Lungenentzündung folgte,
und sie diese Krankheiten ohne Arzt durchgemacht hat.
Professor Schrattenthal's Vorrede gibt noch anderweitige Berichte
über Johanna Ambrosius, deren eigentlicher Name Voigt ist,
während ihre Eltern Ambrosius heißen. Diese Mittheilungen
brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Mir kommt es auf den Inhalt
und die Form ihrer Dichtungen, auf ihre poetische Technik an.
Nahe lag, ihre Lebenserfahrungen und ihre Gedichte mit denen der
Ada Negri zu vergleichen. Ada Negri war widerstandsfähiger
und wurde früher erkannt. Sobald wir beide Frauen historisch
betrachten, darf von ihrem Elend bedauernd nicht mehr gesprochen
werden. Den Weg aus der Tiefe zur Höhe haben beide vollendet.
Woher sind die adeligen Gedanken ihnen zugeflogen. Eine der Stellen,
die Karl Schrattenthal aus Johanna's Briefen mittheilt, lautet:
,,Wenn ich ein Lied schreibe, bin ich so erregt, so weltentrückt,
daß ich mir wie eine Fremde vorkomme." Diese Empfindung
überkommt uns selber, wenn wir manche ihrer Verse lesen. Starkes
wahrhaftiges Gefühl spricht ans ihnen und läßt diese
Dichtungen den Rang für sich bestehender Schöpfungen des
menschlichen Geistes einnehmen. Wir sagen uns hier hat Jemand, weil
die Erde keinen Platz für ihn hatte, in lichten Höhen
ein eigenes Gestirn erreicht, auf dem er alleiniger Herr ist. In
diese selbstgeschaffene neue Herrschaft trägt ein Flügelschlag
die Dichterin empor. Von da aus betrachtet, nimmt alles Traurige
und Unschöne des irdischen Lebens andere Gestalt für sie
an. Verlust verwandelt sich in Gewinn. Die Art, wie Ada Negri und
Johanna Ambrosius unerträglichen Druck in das Gefühl der
Befreiung umwandeln, ist so sehr dieselbe bei beiden, daß
sie Töchter derselben Mutter zu sein scheinen. Was sie unterscheidet,
sind zufällige Aeußerlichkeiten der Nationalität
und der Lebensstellung.
Ada Negri entsprang der in Fabriken sich zusammendrängenden
ruhelosen Menschenmasse. Sie hat die Leiden, die diese Art von Elend
hervorbringt, von Kind auf erlebt. Das Dröhnen und Kreischen
und Stampfen der Maschinen erfüllte ihre Ohren. Johannen hat
die sich ewjg gleiche Feldarbeit den jungen Rücken gebeugt.
Die nordischen Kiefernwälder umgeben ihr Dorf, die nie rauschen,
sondern nur seufzen, wenn der Wind sie durchzieht. Die Bilder und
die Gefühle des Moments sind von impetuoser Kraft bei der Italienerin,
der Jugend, Kraft und Gesundheit etwas Aggressiv-Kriegerisches verleihen.
Bei Johanna Ambrosius waltet größere geistige Kraft und
die ruhige Stärke einer deutschen Seele. Ada bricht durch das
Dickicht, das sie umgibt, mit den Fäusten quer durch; Johanna
sucht in der selva oscura de nostra vita mit müden Füßen
einen gangbaren Pfad. Beide aber bringen es dahin, daß ihre
Gedanken sich in unserem Gedächtnisse einnisten und nicht wieder
daraus zu verscheuchen sind.
Beide Frauen sind erfüllt von dem Geiste der Gegenwart. Das
mir aufallendste Zeichen dieses neuen Geistes, den ich als in späten
Jahren noch neu in mich eindringendes Element beobachte, ist die
Abneigung, ja Unfähigkeit, in die Erforschung des menschlichen
Daseins früherer Jahrhunderte heute noch so mich zu vertiefen,
wie ich in früheren Jahren gethan. Was hinter dem Beginne dieses
Jahrhunderts liegt, hält, wie von Mattigkeit befallen, mich
nicht mehr fest. Nicht ich allein mache diese Erfahrung, auch Andere,
in vertrauten Gesprächen, gestehen sie als die ihrige ein.
Von dem, was die vergangenen Jahrhunderte bieten, erscheinen mir
nur das Christenthum und sein Stifter, Homer, Shakespeare, Raphael
und Goethe unberührt von diesem Verblassen. Es ist mir zuweilen,
als sei man in ein neues Dasein versetzt und habe nur das nöthigste
geistige Handgepäck mitgenommen. Als zwängen völlig
veränderte Lebensbedingungen zu völlig neuer Gedankenarbeit.
Denn Entfernung ist nichts mehr, was Menschen trennt. In spielender
Leichtigkeit umkreisen unsere Gedanken den Umfang der Erdoberfläche
und fliegen von jedem Einzelnen zu jedem Anderen, wo er auch sei.
Die Entdeckung und Ausnutzung neuer Nuturkräfte vereinigt sämmtliche
Völker zu unablässiger gemeinsamer Arbeit. :Neue Erfahrungen,
unter deren Drucke unsere Anschauung alles Sichtbaren und Unsichtbaren
in ununterbrochenem Wechsel sich ändert, drängen uns auch
für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit neue Betrachtungsweisen
auf. Die in bedeutenden Menschen verkörperte Kraft suchen wir
auf ihre reine Leucht und Bewegungskraft zu prüfen und anders
als bisher in ihrer individuellen Erscheinung zu begreifen und darzustellen.
Wie suchte ich vor dreißjg Jahren Voltaire und Friedrich,
Lessing und Winckelmann, Mirabeau und Napoleon um ihrer selbst willen
noch zu durchdringen, die mir heute nur insofern wichtig und auch
verständlich sind, als sie die heutige Zeit erklären helfen.
Auf die Gegenwart koncentrirt sich meine geistige Arbeit. Sie verstehe
ich, weil sie lebt. Selbst Goethe gilt mir nur insoweit noch, als
er in und für uns heute fortlebt, und der "junge Goethe"
insoweit, als er den "alten Goethe" verständlich
macht. Es muß in der geistigen Weltatmosphäre sich etwas
verändert haben, daß die früheren Jahrhunderte heute
zu verblassen beginnen. Was nicht lebt und sich bewegt, ist todt.
In Ada Negri's und Johanna Ambrosius' Existenzen erblicke ich Verkörperungen
historischer Elemente, die einer Abmessung und Formulirung bedürfen.
Daß sie so einsam aufwuchsen. Daß sie niedrigen Standes
sind. Daß sie eine so reine Sprache reden. Daß sie arme
Frauen sind. Daß sie die nicht hassen, denen ein günstigeres
Loos zu Theil wird.
Eins der letzten Gedichte Johannas (Januar 1895) heißt
Mein letztes Lied
Ein Lied möcht' ich ersinnen,
Ein wundersames Lied,
Das gleich dem durst'gen Maienwind
Die ganze Welt durchzieht.
Von Nord nach Süd, von West nach Ost
Bräch' es sich Bahn im Nu,
Und gäb der ganzen Menschheit Trost,
Glück, Frieden, Heil und Ruh'.
Den Sterbenden, den Kranken
Soll's süsse Labung sein,
Bei seinem sanften Flügelschlag
Verstumme Schmerz und Pein.
Bei Waffenklang, bei heissem Streit
Flamm' es empor den Muth,
Und alles unverstandne Leid
Mach' seine Stimme gut.
Doch wo die Sünde lauert
Mit blutigem Schlangenblick
Da werd's zum brausenden Orkan,
Treib' sie ins Meer zurück.
Auf jeden Spalt im Elendhaus
Leg' sich's wie Balsam kühl,
Es reinige die Tempel aus,
Setz' jeder Noth ein Ziel
Und wenn dies Lied gelungen,
Nicht wünscht' ich Gold noch Ehr',
Zerschlagen möcht' die Leier ich
Und säng' kein andres mehr.
Im Wald müsst ihr verscharren
Mich heimlich unterm Tann',
Und Niemand soll erfahren,
Wer dieses Lied ersann.
Nicht ein Vers in diesem Liede, der nicht eine Anschauung enthielte.
Wie schön die drei ersten Strophen das ausführen, was
von der Dichterin "die ganze Welt" genannt wird. Wie sichtbar
alle Bilder sind. Wie sie wechseln. Wie sie Kontraste bilden. Und
wie rührend die letzte Strophe zum Dichter zurückkehrt.
Dieses Gedicht erklärt die namenlosen Lieder der Volksdichtung.
Wie manche Stücke des Wunderhorns mögen so von armen Mädchen
und Frauen stammen, und Niemand weiß, wer sie ersonnen hat,
weil Niemand es erfahren sollte. In der Vorrede zu Jacob Grimm's
Buche über den deutschen Meistergesang (das er schrieb, als
er sechsundzwanzig Jahre alt war) spricht er von den dichtenden
Frauen der alten deutschen Zeit. Er fagt vom deutschen Minnegesang:
,,Ich möchte in gewissem Sinne diese Poesie kein Eigenthum
der Dichter nennen. Unter Anderem ist offenbar, daß nie eine
Poesie frauenhafter gewesen als diese war, mit ihrer unermüdlichen
Blumenliebe, mit ihrem stillen Glänzen. Wer wollte noch Zweifel
hegen, daß in dem Gemüth der Frauen damals ganz eine
solche Welt gestanden und tausend solcher Klänge erklungen
haben. Zarter als je ein Mann gesungen. Auszusprechen fiel aber
Jenen niemals bei, ihr Leben blieb ihr Dichten und Trachten. Auch
Johanna Ambrosins hat lange gewartet, ehe sie ihre Verse offenbar
werden ließ. Es sind die Gedanken und die Gefühle eines
einsamen Mädchens und einer einsamen Frau."
Gedenke ich der Romantik, die die ersten Zeiten unseres Jahrhunderts
beherrschte , so erscheint mir die heutige Zeit wie ein blühendes
Kornseld unendlichen schweigenden Gärten mit Leichensteinen
gegenüber. Lenau , Uhland, Rückert, Platen und auch Heine
suchten dieses Gräberfeld so dicht mit Blumen zu bepflanzen,
daß es zu leben begann. Aber wenn sie die Todten zum Sprechen,
ja zum Gesang neu belebten, immer erklangen wie aus Gräbern
diese Stimmen, und selbst die Gegenwart schien hinunterzusteigen,
um aus der Tiefe empor zu reden. Den furchtbaren Druck dieser Weltanschauung
hat die Gegenwart von uns genommen. Ein unbezwinglicher Drang ,
uns historisch bedingungslos frei zu fühlen, erfüllt die
heutige Menschheit.
Platen war unfrei durch seine Vornehmheit, Heine durch eine gewisse
Ueberhebung, gepaart mit heimlicher Selbstverachtung ; Byron, Lenau,
Uhland, Rückert vermögen ihre Resignation nicht zu verhehlen, die
sie bedrängt; es klirrt die leise klingende Fessel, die die Geschicke
Jedem von ihnen anschmiedeten, und tönt in ihre Verse hinein. Die
Hoheit ihrer Seele vermochte sie nicht loszulösen von dieser Sklaverei.
Beinahe wahnsinnige Versuche werden von den heute Lebenden gemacht,
sich aus diesem Banne herauszuwinden. Aus Petöfy's Gedichten tönte
zuerst der Gesang der neuen Zeit. Er will, wie Goethe einst, nur
sich aussprechen und weiter nichts. So weit Uebersetzungen mich
urtheilen lassen, erreichen die anderen ungarischen Dichter ihn
bei Weitem nicht. Auch die berühmten Polen, Russen und Franzosen
sind nur Historiker mit Petöfy. verglichen. Sie dichten nicht zuerst
nur für sich. Sie streben, offen oder heimlich, nach anerkennender
Beurtheilung. Sie stehen erfüllt von Selbstgefühl inmitten von Bewunderern.
Wie wenig ist Petöfy daran gelegen! Ruhm verlangte er sicherlich
; aus welcher Ecke aber er ihm zuflöge, kümmerte ihn gewiß nicht.
Nichts beeinträchtigt sein souveränes Herrschergefühl. Er weint
und lacht der Welt ins Gesicht. Ihm ging es schlecht genug -- sobald
er zu dichten beginnt, sitzt er auf den Gewölken, und die Welt liegt
unter seinen Füßen. Er ruft den Tod herbei, aber will leben. Seine
wehmuthvollsten Klagen athmen Lust am Dasein aus.
Nur ein Dichter der Gegenwart erreicht ihn und steht vielleicht
über ihm : Mistral, dessen Mireille wie aus den Lippen Homer's zu
tönen scheint. Von Lamartine bis Victor Hugo kennt Keiner das Geheimniß
dieses Franzosen .provenzalischen Stammes, Glück und Unglück mit
dem gleichen freudigen Accente zu sagen, unendliche Trauer und Wohlsein
so ineinanderklingen zu lassen, als ob kein Unterschied walte. Petöfy,
Mistral, Goethe, Shakespeare und Homer erscheinen mir manchmal wie
die wiederkehrende Verkörperung eines einzigen Dichters. Das ist
der große Urdichter der Menschheit, der seine Trauer in Worten ausläßt,
deren Klang ihn entzückt. Inmitten der Verzweiflung , die sein Herz
zersprengen möchte, versagt ihm die Fähigkeit, betrübt zu sein.
Ein unbekanntes Glücksgefühl des bloßen Daseins verläßt ihn nicht.
Das ist das Geheimniß der Gedichte der Ada Negri und der Johanna
Ambrosius. Sobald sie zu dichten beginnen, wird, was sie bedrängt,
zu einer Quelle des Wohlseins für sie. Johanna's Leben von ihrer
Jugendzeit bis zum neuesten Tage haben wir vor Augen : in ihren
Versen liegt ein Ersatz für die bösesten Erfahrungen. Es sind Formeln,
die Kohlen in Gold verkehren. Wer möchte diese arme Bäuerin in ihrer
uns kaum begreiflichen Dürftigkeit arm nennen? Wir sind die Armen,
und sie beschenkt uns. Die Wunden, aus denen ihr Blut floß, werden,
wie Shakespeare sagt, zu Lippen, die lieblichen Trost ihr zuflüstern.
Lesen wir die Verse auf den Tod eines gestorbenen Kindes, dem sie
die Puppe und das Büchelchen, die es am meisten liebte, mit in den
Sarg legt; so vollendet in ihrer Einfachheit, daß das Dichten selber
sie beruhigen mußte. So die Gedichte an ihre Tochter und den Sohn,
aus denen fast übermüthiges Glück quillt. Die Saiten des menschlichen
Herzens schlägt die arbeitsharte Hand dieser Frau an, daß es ist,
als ob Feenhände hindingriffen. Und wie erklärt sich diese fast
unbegreifliche literarische Besonnenheit. Lauter ausgewachsene,
formvollendete Früchte, die sie uns darreicht.
Versaümtes Glück.
Mir zog das Glück vorüber
Mit seiner vollen Fracht,
Ich sah sie weithin schimmern,
Die märchenhafte Pracht.
Der Fuhrmann wollte halten,
Mein Herze klopfte schwer,
Schon reckt' ich aus die Hände,
Da war die Stelle leer.
Ich sah ihn in der Ferne
Hinjagen wie der Wind --
Nun sitze ich am Wege
Und weine mich fast blind.
Klingt das nicht wie aus "Des Knaben Wunderhorn" Aus derselben
Quelle scheint das zu kommen, aus dem Walter von der Vogelweide
sein ,,Oweh, wie sind verschwunden alle meine Jahr' ", und Goethe
sein "Dadroben auf jenem Berge" entgegenklang. Ich meine die Melodie
dazu zu kennen, als hätte ich es vor alten Zeiten einmal singen
gehört. Kein Vers ohne ein Bild dazu. Dieses Gedicht und das oben
abgedruckte Letzte Lied wählte ich zufällig heraus. Wie auf jeder
Wiese, wo Blumen wachsen, stehen auch in Johanna's Liederbuche bescheidene
und hervorleuchtende durcheinander. Blumen aber alle. Und wenn sie
einer abgelegenen Wiese im Walde entsprossen sind, nicht weniger
duftend darum. Wo eine solche Blume aufblüht, im Osten Deutschlands,
da ist heiliger Boden, in dem ihre Wurzeln stecken. Und ob ein Kind
oder seine kranke Mutter sie pflückte, darf uns nicht kümmern. Keins
unter Johanna's Gedichten, das nicht den freien Geist einer hochstehenden,
aber einsamen Natur bekundete, die, nach langen inneren Kämpfen,
die harten Schläge ihres Schicksals als einen Theil höherer Harmonie
erkannt hat.
Die Aufgabe der Völker ist heute, Diejenigen herauszufinden , die
das Beste thun, denken und aussprechen. Wenn ich in die Vergangenheit
blicke, erscheint mir zuweilen als unmöglich, mit wie armseligen
geistigen Ernten die Nationen früher sich begnügt haben. Eins der
schönsten Zeichen des heutigen Tages ist die Freiheit, die jedem
Worte verliehen wird, aus den tiefsten Höhlen heraus und durch die
dicksten Mauern hindurchzuklingen. Es heißt nicht mehr: Viele sind
berufen, und Wenige sind auserwählt, sondern: Alle sind berufen
und Viele auserwählt.
Ada Negri's geistige Bildung höherer Art und ihre Kenntniß der
äußeren Welt, da Armuth, Abgeschiedenheit und Niedrigkeit sie dem
Verkehr entrückten, ist ihr aus Zeitungen zu Theil geworden, die
in ihr entlegenes Dorf den Weg fanden. Zeitungen hat sie ihre Gedichte
einzeln zugesandt. Und diese haben sie gedruckt. Ohne Zuthun von
Zwischenträgern ist das Kind einer armen Fabrikarbeiterin, von dem
Niemand wußte, wo es steckte, dem italienischen Volke bekannt geworden.
Und so haben die Schwestern Martha und Johanna Ambrosius, denen
ihres Vaters Bücher und die Dorfschule (bis zum elften Jahre) freilich
Manches gewährten, der "Gartenlaube", die sie zu erlangen wußten,
den Zusammenhang mit der Welt verdankt. Aus dieser Zeitschrift lernten
sie das deutsche Volk kennen, ihr wurden Johanna's erste Verse zugesandt.
Halb namenlose, flatternde Blätter vermittelten, was auf keinem
anderen Wege zu erlangen gewesen wäre.
Von der Macht der Zeitungspresse redet Jeder heute. Ein unsichtbarer
leidenschaftlicher Verkehr zwischen unsichtbaren Schreibern und
unsichtbaren Lesern vollzieht sich in ihr unaufhörlich und unaufhaltsam.
Um gelegentliches, zufälliges Lesen handelt es sich bei Zeitungen
und Journalen. Nichts von regulärem Unterricht wird hier vorausgesetzt
oder uns geboten. Von einem Artikel lesen wir nur den Anfang, vom
andern nur das Ende. Verachtungsvoll und gleichgültig nehmen wir
das Blatt und werfen es wieder hin. Wir fragen nur selten, welche
Feder das wohl geschrieben. Guter und schlechter Stil sind uns recht.
Wer aber könnte Zeitungslektüre entbehren Das dringt in uns ein
und befriedigt die Sehnsucht nach etwas, das wir sonst nicht kennen
würden. Journale enthalten das rücksichtsloseste Bild des täglichen
Daseins. In wildem, natürlichem Drange nehmen sie es in sich auf
und geben es weiter. Journale sind die natürliche, unentbehrliche
Nahrung. Wir lesen sie, wie eine Herde eine Wiese abweidet. Ohne
Wahl wendet sie sich dahin und dorthin und zermalmt mit den Zähnen
Blumen und Gras, was gerade dazwischen kommt. Journale lesen wir
immer. Beim Frühstück, Mittags, beim Abendessen, in der Pferdebahn,
aus der Eisenbahn. Wo getrunken nnd gegessen wird, verlangen wir
eine Zeitung als Labsal. Wir tragen sie mit uns, wir haben immer
Geld und Patz für sie übrig. Wir machen dem Blatte keine Vorwürfe,
wenn es uns empört ; wir danken ihm nicht, wenn es uns amüsirt,
interessiert, nicht einmal, wenn es uns begeistert. Ein Dasein ohne
Zeitungen wäre nicht mehr denkbar. Die Zeitung ersetzt Freundschaft,
Vertrauen, beinahe die Familie. Selbst die Annoncen lesen wir und
träumen uns auf einen Moment in die Verhältnisse Derer, welche kaufen,
miethen, verkaufen, vermiethen, Unterricht geben ober nehmen wollen,
Dienste jeder Art, Wohnungen, Mädchen, Bediente, Männer, Bräute
oder Kinder suchen, die sie gut zu erziehen versprechen. Ein ungeheuerer
geistiger Verkehr des heutigen Tages, der zwischen den einander
unbekannt Bleibenden waltet, an dem unbekannt und unerkannt wir
selber theilnehmen. Wie wären ohne die energische Arbeit anonymer
Zeitungsschreiber, die nur den einen Ehrgeiz hatten, so viel zu
sehen und zu hören als möglich und so rasch und genau als möglich
zu schreiben, die herrlichen Tage von Friedrichsruh zu einem Feste
geworden, an dem das ganze deutsche Volk zu gleicher Zeit theilnahm
So daß es war, als habe jeder Deutsche Bismarck gesehen und gehört!
Das ist die Art, wie die Gegenwart ihre eigene Geschichte erlebt.
Was bedeuten Rom und Griechenland, dem gegenüber, heute ? Wir sind
freilich noch daran gewöhnt, den ungeheueren Körnerhaufen dessen,
was das Alterthum bietet, immer wieder umzuschaufeln; und weil kein
Brot mehr daraus wird, glauben wir, es fehle an der Masse, es müsse
mit noch größerer Anstrengung gesucht, gegraben und in Museen aufgestellt
werden, was die Erde irgend hergibt. Aber der Glaube an die Zauberkraft
dieser Sammlungen ist verloren, und die Zeiten werden bald kommen,
wo man ernsthafter fragen wird , zu welchem Nutzen denn mit soviel
Geld diese Aufstapelungen des ewig Fragmentarischen in Szene gesetzt
werden. Neues verlangen wir. Das Neue sagen die Zeitungen zuerst,
Ruhm und Ehre verbreiten sie. An der Spitze unserer literarischen
Bewegung marschiren sie, und derselben Zeitung, deren Verlogenheit
wir heute beklagen, entnehmen wir am nächsten Tage, was uns zu Zustimmung
und Dankbarkeit bewegt.
Den Zeitungen zumeist verdanken Ada Negri und Johanna Ambrosius
Stil und Weltanschauung. Wenn von mir verlangt würde, daß ich erxakt
formulirte, was in den Gedichten der beiden Frauen mich ergreift,
so käme ich über den Begriff "Geist der Gegenwart" nicht hinaus.
Das ist die vornehmste, unaufhörliche Lehre unserer Journale: die
Gegenwart höher zu schätzen, als die Vergangenheit. Ich weiß, wie
ich oben ausführte, den Grund nicht, warum das Vergangene für mich
zu verblassen begonnen hat. Ueber das Wort "sich auflöfen" käme
ich auch hier nicht hinaus. Das kunstvoll von Gervinus zuerst ausgebaute
Gerüst der deutsehen Literaturgeschichte steht vor mir nicht mehr
aufrecht. Ich sehe keine "romantische Schule" mehr, sondern einzelne
dichtende Menschen, die sich mir unter ganz anderen Gesichtspunkten,
als den bisher eingenommenen, darbieten. Eine gewisse Zeitlosigkeit
umgibt sie. Ich frage immer weniger danach, was sie ihren Mitlebenden
einst werth waren, sondern was sie mir heute werth sind. Woher stammt
der seltsame Haß der Sozialdemokraten gegen die Geschichte ? Der
der jüngeren Schriftsteller aus der Schule Ibsen's gegen die ältere
Literatur ? Der der Wagnerianer gegen die ältere Musik ? Der der
Sezessionisten gegen die bisherige Malerei Was die Anhänger dieser
neuen Richtungen hervorbringen, scheint zum Theil kindisch, zum
Theil nicht einmal wahr; eine Thatsache aber bleibt der Zudrang
des Publikums. Man erwartet Etwas. Es ist nicht bloße Neugjer. Ein
Bedürfniß nach frischen, geistigen Gebilden hat gleichmäßig überall
die Menschheit ergriffen. Abgethanes soll nicht länger auf uns lasten.
Bürger's "Ach, laß sie ruh'n die Todten!" ist die Inschrift auf
der Stirnseite des Palastes der Gegenwart. Wenn ich Homer, Shakespeare,
Goethe und Raphael nicht auf die große Proscriptionsliste setze,
so geschieht das, weil deren Werke eine dauernde übermächtige Gegenwart
umgibt, die in allen Zeiten sich aus eigener Kraft zu erneuern scheint,
bei der, wie bei den großen Gestirnbahnen, unsere gemeinen Zahlen
nichts bedeuten, sondern wo mit Lichtjahren gerechnet werden muß.
Wir stehen am Abschlusse einer weltumfassenden geistigen Eisperiode,
und das plötzliche Schmelzen der Gletscher, das Herunterrauschen
ungeahnter Fluthen ist das, was uns beängstigt, aber auch begeistert.
Aus den Gedichten der Ada Negri klingt die atemlose Gewaltsamkeit
wider, in der das italienische Dasein heute vorwärts geht. Lauter
Erplosionen. Der unaufhörliche Donner dieser literarischen Kanonade
ist schon zu etwas Natürlichem in Italien geworden. Man hat das
Bedürfniß dort, sich, auch wo nur Brot gebacken wird, auf kochender
Lava zu empfinden. Die "Gartenlaube" war den beiden Handwerkerkindern
in ihrem Dorfe eine sanftere Lehrmeisterin. Aber auch ihnen ließ
sie das Erringen literarischen Ruhmes aus direktem Wege als möglich
erscheinen. Sie lehrte sie die geistige Gleichheit der Menschen,
leitete den Athemzug der deutschen nationalen Bewegung in ihre Einsamkeit,
lehrte Johanna sich selbst vertrauen und flößte dem armen Mädchen
den "Heißhunger nach dem Wissen" ein, das es "als Kind in Thränen
ausbrechen ließ". Den Zeitungen und dem Neuen Testamente entnahm
Johanna die Lehren hoher Resignation, die den Grundton ihrer Dichtungen
bildet. Wenn ich Goethe und Shakespeare hier nenne 1), so kann ich
Johanna Ambrosius und Ada Negri mit diesen beiden nicht vergleichen
wollen: der geistigen Verwandtschaft nach aber gehören sie zu ihrer
Sippe. Sie sind edelgeboren. Wo der echte Dichter etwas sagt, erscheint
ein Bild vor unserem geistigen Auge, wo ihn etwas erfreut, erfreut
es auch uns, wo Dichter um etwas trauern, zwingen sie auch uns zu
trauern. Es gibt ein Zeichen, das den wirklichen Dichter erkennen
läßt: das jedem seiner Gedichte unsichtbar vorgedruckte Motto: "Aus
tiefster Noth schrei' ich zu Dir!" Auch der armen kranken Bauersfrau
"gab ein Gott zu sagen, was sie leidet".
Der Gedanken- und Gefühlsgemeinschaft allen Menschenvolkes entwachsen
neue Pflichten heute. Wenn die "Elbe" versinkt, wenn Erdbeben Städte
umwirft, wenn Lawinen und Berge aus Dörfer herabkommen, oder Brand
und Krankheit Opfer fordern, so sind es die Todten der ganzen Menschheit,
die hier betrauert werden, und deren Hinterbliebener die Welt sich
annimmt. An dem Schicksal der armen Bäuerin ist Niemand schuldig;
für den kranken Körper der Dichterin Johanna Ambrosius jedoch und
für ihre Kinder muß gesorgt werden. Zunächst liegt uns die Pflicht
ob, zu fragen, was geschehen könne, und dann, Etwas zu thun.
1) In aufallender, unschuldiger Weise hat sie einige Verse Goethe's
einmal nachgeahmt, obgleich diese Annahme nicht als zwingend nothwendig
erscheint.
|
Herman
Grimm
Johanna Ambrosius
zum Erscheinen von:
Carl Schrattenthal: Johanna Ambrosius, eine deutsche Volksdichterin.
Vierte Auflage
In: Deutsche Rundschau, Sept. 1895 |
zum
Kopf der Seite
Herman Grimm, der Sohn des Germanisten
Wilhelm Grimm, war ein bedeutender Literaturkritiker seiner Zeit

|
Infos
über Hermann Grimm (Wikipedia) >>
zum Kopf der Seite
|
zum
Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
|
Nach Vorkriegs-Literatensitte
war es förmlich Dienst, die Spätabende und Nächte
im Cafe zu verbringen. Man las dort in den aufgestapelten Zeitungen,
besonders Kritiken wie auch Angebot und Nachfrage, um sich gegebenenfalls
sofort zu melden, hielt so eine Art Börse ab, zankte sich bisweilen
über ziemlich gleichgültige Dinge mit einer Leidenschaft,
als ob das Wohl des Landes davon abhinge - störende Cafemusik
gab's noch nicht - und sah dann etwa um 2 zum ersten Mal nach der
Uhr. Darauf beschloß man, bald nach Hause zu gehen, trank
aber vorsichtshalber noch eine zweite Tasse Kaffee - zwischennein
drei bis sechs Glas Wasser, die Herr Meindl, der Wiener Ober, seinen
"treuesten" Stammgästen durchaus nicht knickerig
spendete. Spätestens um 3 Uhr, namentlich im Sommer, wenn sich
schon der Morgen vor uns graute, begann man wieder nach der großen
Uhr zu sehen, die wie ein blau-goldener Globus zwischen zwei Räumen
unter einem Tragbalken baumelte. Eine Plauderei, die mir immer als
besonders unwiderstehlich vorschwebte, hieß: "Was sich
die Uhr im Cafe Bauer erzählt." Schon hatte ich mir dazu
auch unzählige Schlagworte aufgeschrieben, die auf Preisverzeichnissen,
Bierfilzen und Eintrittskarten meine sämtlichen Kleidertaschen
unsicher machten; doch gehört diese wirklich geistreiche Arbeit,
wie überhaupt meine "besten" Werke, leider zu den
ungeborenen Kindern.
Hauptausrede für den häufigen Cafeverkehr war die Vorstellung,
daß man dort die meisten Verbindungen anknüpfe. Nun kam
es wohl einmal vor, daß jemand, der genau über die Gepflogenheiten
des Dinterichs unterrichtet war, statt einen langen Brief zu schreiben,
seinen Sowieso-Aufenthalt bei Bauer dazu benützte, eine geschäftliche
Angelegenheit zu regeln. Nach einer solchen Unterredung am Nachbartisch
setzte man sich, Stolz in der Brust, wieder zu seinen Freunden,
bestellte ausnahmsweise statt des Cafe noir eine um zehn Pfennig
kostspieligere Melange und steigerte sein Ansehen noch dadurch,
daß man so nebenbei die Bemerkung fallenließ: "Wieder
ein Auftrag!"
Doch weiß ich auch, daß in der Tat einmal Ferdinand
Michels im Cafe Bauer fest auf mich lossteuerte und - o welche Wonne,
welches Glück! - ein Feuilleton über die so begeistert
aufgenommene Johanna Ambrosius bestellte; übrigens mit der
Mahnung, schon aus Gründen der Menschlichkeit an der armen
Frau doch zu loben, was nur zu loben war. Ich schrieb denn auch
einen Aufsatz, dessen Paten die Barmherzigen Schwestern Güte
und Mitleid waren.
Der Fall Johanna Ambrosius enthält einige literarpsychologische
Merkwürdigkeiten und verdient daher noch einige Beleuchtung.
Professor Schrattenthal in Preßburg (eigentlich Karl Weiß)
hatte es sich zur Aufgabe gemacht, unter Frauen aus den sogen, unteren
Ständen lyrische Begabungen ausfindig zu machen. Nach einigen
Anfangserfolgen hatte er Frau Johanna Voigt, geb. Ambrosius, in
Gr. Wersmeninken im Kreise Pillkallen entdeckt und damit allem Anschein
nach den besten Fund gemacht. Weiß der Himmel, wie es so recht
zuging; aber diese Poetin wurde fast über Nacht eine deutsche
Berühmtheit und nahm einen stürmischen Siegeslauf, wie
er z. B. einer Agnes Miegel nicht im entferntesten beschieden war.
So stimmte bald nach Erscheinen der Gedichte der sonst ziemlich
zurückhaltende Heinrich Hart in der "Täglichen Rundschau"
einen Ambrosianischen Lobgesang an, der den Ausverkauf einer ganzen
Auflage der Gedichte zur Folge hatte. Der in mancher Hinsicht glänzende
"Essaiist" Herman Grimm nannte die Johanna Ambrosius in
einer geistreichen Abhandlung der "Deutschen Rundschau"
in einem Atem mit Homer. Adolf Wilbrandt hat Frau Voigt zum Vorbild
der Heldin in seinem Roman "Hildegard Mahlmann" gewählt.
Bei einem ihr zu Ehren in Berlin veranstalteten Gastmahl, an dem
etliche Spitzen des deutschen Schrifttums wie Spielhagen und Ernst
Wiechert teilnahmen, wurde die Beglückte von ihrem hervorragendsten
Landsmann, dem damals auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehenden
Hermann Sudermann, zu Tisch geführt und zum Mittelpunkt bedeutsamer
Huldigungen gemacht. Kaiserin Friedrich gewährte ihr eine Unterredung,
und Kultusminister Bosse ermöglichte ihr zwei weite Reisen.
Der erste Teil ihrer Gedichte wurde ins Englische übersetzt.
Kurz, es ließe sich beinahe von einem Ambrosius-Rummel sprechen,
und jedenfalls war es kein Wunder, daß ihr bescheidenes Bändchen
schon i. J. 1903 die 40. Auflage erreichte - einer, der es wissen
muß, behauptet, "mehr als unsere größten Lyriker
neuerer Zeit zusammen".
Wie erklärt sich eine solche Masseneinstellung? Nun, man war
allgemein des guten Glaubens daß es sich um eine ganz einfache
Landarbeiterin ohne Spur von wirklicher Bildung handle und sodann,
daß sie trotzdem die herrlichsten Gedichte gemacht habe; ihr
"gab ein Gott zu sagen, was sie leidet". Beide Voraussetzungen
waren falsch oder doch wenigstens nur teilweise richtig. Die Dichtung
war ihr nicht als Himmelsgabe in den Schoß gefallen, sozusagen
durch unbefleckte Empfängnis; vielmehr hatte schon das junge
Mädchen brav die Gartenlaube und dergleichen gelesen, und überdies
standen ihre eigenen Schöpfungen kaum höher als die Durchschnitts-Veröffentlichungen
solcher Familienblätter.
"Schriewe Se dat von wo af, oder wie make Se dat?" hatte
eine Dorfgenossin unsere Dichterin gefragt, als diese ihr einige
Gedichte vorgelesen hatte. Nein, abgeschrieben ist von Johanna Ambrosius
nicht ein Vers - aber nach Form und Inhalt unbewußt nachempfunden
sind sie fast alle. Und ihre Muster waren nicht einmal immer die
besten! Für die Vorbedingung aller poetischen Wirkung hielt
sie den Reim. Wonne - Sonne, Schmerz -Herz, Lied - Ried: die von
Arno Holz so heruntergeputzte Leier drehte sich ohn' Unterlaß!
Inhaltlich gab es fast ausschließlich Wehleidigkeit, Schmerzseligkeit
("meertiefes Leid") und als einen Haupttrumpf Todesgedanken,
und all dies noch mit einigem Ungeschmack und Überspannungen
des lyrischen Gefühls. Nur selten blitzt als erlösende
Abwechslung ein Körnchen Humor auf, zeigt sich anstelle des
gewöhnlichen Wortüberflusses schlagende Kürze oder
gar der Klang des echtbürtigen Volksliedes.
Jedenfalls, es ging alles mit rechten Dingen zu - es war ein Fall
wie andere mehr! Aber die einmal aufgetischte Legende erhielt sich,
daß hier eine "Naturdichterin" erstanden sei, und
man meinte damit, daß jemand ohne "Kunst", ohne
besondere Vorbereitung und ohne die notwendigsten Bildungsmittel,
gleichsam als unmittelbar Beauftragter und Offenbarer der Natur
"dichten", mit Zungen reden könne. Die Welt wollte
wieder einmal ihr Wunder haben!
Ein solcher Fall kritikloser Verkennung und Überschätzung
steht keineswegs einzig da. Im Grunde wiederholte sich hier nur
nach hundert Jahren, wenn auch mit Unterschieden, die rührende
Geschichte von der Schneiderfrau und Gelegenheitsdichterin Anna
Luisa Karsch, die, noch minder begabt als die Ambrosius, ebenfalls
ohne eigentliche literarischen Unterlagen, die bessere Gesellschaft
Berlins für sich gewann. Wurde diese Reimerin - mehr war die
Karschin nicht, höchstens daß sie noch eine auffallende
Fertigkeit im Stegreif dichten hatte - durch Gleim und seinen Hofstaat
doch gar als "preußische Sappho" gefeiert!
Auch darin drängt sich ein Vergleich zwischen der Naturdichterin
des 18. und der des 19. Jahrhunderts auf, daß beide Frauen
in ihrer Glanzzeit ein ganz hübsches Maß von Selbstbewußtsein
aufwiesen. So verweigerte die Karschin, als ihr Friedrich der Große
auf ein Gesuch hin etliche Taler schickte, die Annahme dieses ihr
zu gering scheinenden Betrages:
Fünfzehn Taler schickt der König
-
Fünfzehn Taler sind zu wenig.
So entsinne ich mich auch, daß Frau Voigt einem Königsberger
Photographen die Verbreitung von ihr nicht gefallenden Bildnissen
u. a. mit dem bezeichnenden Wort verbot: "So komme ich nicht
weiter!" Und in diesem seelenkundlichen Sinne ist auch ein
Brief von ihr aufschlußreich, dem ich nach vollen vier Jahrzehnten
wohl ein paar Sätze entnehmen darf. "Nach den wenigen
Gedichten", schrieb Johanna Ambrosius, "die von mir veröffentlicht
sind (immerhin an 140!) kann die Kritik kein maßgebendes Urteil
über mich abgeben. Die kühne soziale Auffassung fehlt
mir nicht, ich bin auf jedem Gebiet bewandert . . . Was auch die
Herren Kritiker sagen, an meiner Muse wird keiner einen Strich ändern,
sie bleibt mit all den Fehlern mein Teil für mich allein. Die
meisten Damen, die mir geschrieben, stellen mich Goethe gleich*
oder gar noch über. Doch denken Sie nicht, daß ich mir
darauf was einbilde. Goethes Lieder, die ich jetzt gelesen, sind
nur wenige schöne, viele gefallen mir gar nicht. Aber man stellt
meine Lieder den besten Goetheschen gleich."
Daß auf eine so unnatürliche Erhöhung ein um so
tieferer Sturz erfolgen mußte, versteht sich von selbst. Tatsächlich
blieb diese Tragik der Frau Voigt-Ambrosius nicht erspart. Als der
ansteckende Rausch erst einmal verflogen war, kümmerte sich
kein Mensch mehr um die Volksdichterin - wenigstens nicht in den
tonangebenden Literaturkreisen, und so geriet sie ziemlich rasch
in Vergessenheit. Ed. Engel verglich ihre plötzliche Erscheinung
am Dichterhimmel mit einer Rakete, die um so schneller in Nacht
versinkt, je heller sie einen Augenblick geleuchtet hatte.
Johanna Ambrosius hat ihr Glück und Ende vorgeahnt. In einem
ihrer ergreifendsten, weil am tiefsten gefühlten Gedichte,
in dem sie sich bezeichnenderweise auch einmal von der Tyrannei
des Reims befreit, sah sie klug und klar ihre Zukunft voraus:
Kein Seufzer wird entschwund'ner Zeit
nachschweben
Nach jener Zeit, wo man mich hoch gehoben,
Nach jenen Tagen, wo des Glückes Welle
Goldfunkelnd an mein armes Herz gerührt,
Wo mich umhüllte, wie mit einer Glorie,
Der Weihrauchduft aus vieler Menschen Herzen.
Vorbei, vorbei! Auf Erden schwindet alles,
Es hat das Glück nicht Zeit zum langen Bleiben.
Hat ausgeläutet man den Abendsegen,
Dann schweigt der Glocke so beredter Mund - -
Wie bald, wie bald werd' ich vergessen sein!
* Wahrscheinlich,
weil sowohl Goethe als die Ambrosius ein Gedicht "An den Mond"
geschrieben haben. Im Gegensatz zu den verantwortungslosen Damen
steht aber dem Erzähler "Füllest wieder Busch und
Tal" höher als "Nun kommst Du, lieber Mondenschein". |
Ludwig
Goldstein
Erinnerung an Johanna Ambrosius
aus dem Nachlass
abgedruckt in:
Ein Blick zurück.
Erinnerungen an Kindheit und Jugend
An Leben und Wirken in Ostpreußen
Hg. von Martin Borrmann
Monheim, 1961
S. 41 ff.
zum Kopf der Seite
Zum Autor: (text ist zitiert aus
o.g. Buch)
I n dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und in den Zwanziger
Jahren war der Name Dr. Ludwig Goldstein für Königsberg
ein Begriff für wohlfundiertes gerechtes Urteilen in literarischen
Dingen. Dabei war der am 10. November 1867 geborene und in seiner
Heimatstadt schulisch und akademisch gebildete Handwerkersohn alles
andere als ein "Literaturpapst". Nie war er diktatorisch,
niemals verhöhnte er um eines Wortwitzes wegen einen Autor.
Er blieb Diener des Dichtwerks. Er war eine konziliante Natur, was,
wie so oft, auch in seinem Falle auf innere Vornehmheit deutete.
Seine nächste Mitarbeiterin rühmt seine "rastlose
Tätigkeit, hingebende Heimatliebe, grenzenlose Güte und
weitgreifendes Wissen". Goldstein war Feuilletonleiter der
altberühmten "Hartungschen Zeitung", die schon Kants
Lektüre gewesen war. Er war Gründer des Königsberger
Goethe-Bundes und als solcher Initiator aller jener Abende mit Gästen
aus dem "Reich", die uns auch nach der Abtrennung besuchten,
Mittelpunkt des Königsberger Kulturlebens überhaupt. Aus
Heimatliebe blieb er, auch wenn Rufe aus Berlin ihn erreichten,
der Stadt Königsberg treu. Um so mehr kränkten ihn die
menschlichen Enttäuschungen, die er erfuhr, als man ihn nach
1933 wegen seiner väterlichen Abstammung zu boykottieren begann.
Obwohl längere Zeit herzkrank, erreichte er dennoch sein 76.
Lebensjahr und starb, zwei Wochen vor der Zerstörung seiner
Vaterstadt durch Luftangriffe, am 12. Juli 1944. - Sein Erinnerungsbuch,
ein fünfbändiges Manuskript, hat seine langjährige
Helferin, Frau Meta Zilian, trotz Vernehmung durch die Gestapo und
der chaotischen Zustände des letzten Jahres in einem Exemplar
aus der Stadt herauszubringen vermocht. Ihr gebührt unser Dank,
ebenso dem bekannten Verlagsleiter Otto Dikreiter, der uns diesen
Band von größtem Kulturwert, dem der obige Beitrag als
kleiner Ausschnitt entstammt, zugänglich machte. |
zum Kopf der Seite
zum Kopf der
Seite
zum Kopf der Seite
|
Dem unermüdlich alle
geistigen Bestrebungen der deutschen Frauenwelt erforschenden Schriftsteller,
Professoer Karl Schrattenthal zu Pressburg danken wir auch die Bekanntschaft
mit der deutschen Volksdichterin Johanna Ambrosius, deren Gedichte,
von Schrattenthatl herausgegeben soeben bei G Heckenast Nachfolger
in Pressburg erschienen sind. Johanna Ambrosius, deren einfache,
aber keineswegs glückliche Lebensschicksale der Herausgeber
in rührender Weise schildert, ist eine ostpreußische
Handwerkstochter und Landwirtsfrau, die stets mit harten Sorgen
in schwerer Feld- und Hausarbeit, um das tägliche Brot rang;
sie besucht nur die Volksschule ihres kleinen Heimatdorfes, und
las auch nicht viele, wohl aber fast nur gute Bücher. Um so
staunenswerter ist die große Kunst dieser Dichterin , die
reinsten Zartsinn und einfaches, aber vornehmes Erfassen der verborgensten
seelischen Empfindungen, mit glühender Phantasie und innigsgter
Antheilnahme an allem Guten und Schönen in ihren originellen
Liedern auf das Bewundernswerteste vereint. Niemals schlägt
Johanna Ambrosius Saiten an, die sie nicht völlig zu bemeistern
im Stande wäre, stets weiß sie ihren geschickt gewählten
Gegenstand auf das Sorgfältigste und in trefflicher Formvollendung
zu behandeln, so dass den Leser stets das Gefühl beherrscht,
die Dichterin müsse dasim Liede Ausgesprochene auch in der
Wirklichkeit selbst erlebt haben. Erstaunlich ist die sichere Auswahl
der Bilder, da die Dichterin doch nur in sehr enger begrenzter Sphäre
gelebt, ebenso die strenge Zügelung der Gedanken, die selten
vollkommene Selbstschulung, welche den Gedichten edle Vornehmheit
bei unverkünstelter Schlichtheit des Ausdrucks gibt. Unter
den vielen Stücken des Buches, die in die Abschnitte "Lied
und Leid", "Bilder aus dem Leben, aus der Natur und der
Heimat", der gleich dem folgenden, "Bilder vom Lande",
wahrhafte Perlen köstlicher Landschafts-und Stimmunsschilderungen
enthält, "Lieder der Liebe", "Stimmen der Verehrung"
und "Vermischte Gedichte" gegliedert sind, vermöchte
man kein einziges Gedicht zu entdecken, dem nicht ausgesprochene
Ursprünglichkeit und ungesuchte anmuthsvolle Schöheit
nachzurühmen wäre, viele derselben sind aber geradezu
Meisterstücke. Vielleicht am vollendetsten spricht sich das
innerste Wesen der als Gattin und Mutter streng und unentwegt ihren
heiligen Pflichten lebenden, leider jetzt durch Krankheit schwer
gebeugten Dichtterin, in dem einfachen Liede "Meine Welt"
aus. Die von Professor Schrattenthal so vorzüglich zusammengestellte
Auswahl der Gedichte der deutschen Volkdichterin Johanna Ambrosius
sei allen, welche für die idealen Bestrebungen eines außerordenltichen,
schwer wiegenden Talents, Sinn und Gefühl hegen, auf das wärmste
an das Herz gelegt. |
Anton
Bing
[Über Johanna Ambrosius]
Wochen-Rundschau für dramatische Dichtung, Literatur und Musik
31.01.1895
zum Kopf der Seite |
zum
Kopf der Seite |
Es ist mir
eine Herzensfreude, in der "Täglichen Rundschau",
in dem Blatte, dessen Leser vor allem anderen verstehen werden,
was mich so freudig erregt, ein eben erschienenes Büchlein
: "Johanna Ambrosius, eine deutsche Volksdichterin" anzukündigen.
Mit Misstrauen bin ich daran gegangen, das kleine Buch zu lesen,
denn ich habe mit Leuten, die sich prahlhaft den Titel Volksdichter
beilegten, manche üble Erfahrung gemacht; nur wenige Seiten
aber braucht' ich zu durchblättern und eine tiefe Rührung
ergriff mich, und mit lebendiger Theilnahme hab' ich das Buch zu
Ende gelesen. Es bildet eins der schönsten Zeugnisse dafür,
welcher Reichthnm an Gemüth, an geistiger Sehnsncht, an idealem
Anfwärtsdrang in unserem Volke sich birgt, auch in jenen Schichten,
in denen der Blasirte nichts als seelische Dumpfheit und geistige
Trägheit vermuthet ; aber auch ein Zeugnis dafür, wie
vielfach jenem Streben und Wollen die Verkümmerung droht, weil
es so ganz im Verborgenen sich hält nnd halten muss. In den
literarischen Kreisen Dentschlands ist die junge italienische Dichterin
Ada Negri, die in drückender Armut und Weltabgeschiedenhest
ein staunenswertes poetisches Talent zur Entfaltung gebracht hat,
bereits eine gefeierte Per-sönlichkeit ; wer aber unter uns
hat je von der deutschen Dichterin Johanna Voigt geb. Ambrosius
gehört, die unter noch schwierigeren Verhältnissen, als
die Italienerin, ihr Talent entdeckt und gefunden hat. Als Persönlichkeit
ist Ada Negri wohl bedeutender, als ihre deutsche Mitschwester,
der das starke Selbstbewußtsein, die kühne sociale Besinnung
der Italienerin fehlt, aber als Dichterin braucht Johanna Ambrosius
den Vergleich mit der Negri kaum zu scheuen; was diese in der Form,
hat die deutsche an Innigkeit voraus. Ohne jede Ermunterung von
außen, erdrückt von schwerer körperlicher Alltagsarbeit,
hat Johanna Ambrosius sich zu dem machen müssen, was sie geworden
ist; erst jetzt hat sie in Karl Schrattenthal den Freund gefunden,
der die Gedichte der von Arbeit und Krankheit Gebeugten zusammengestellt
und in die Öffentlichkeit gebracht hat.
Geistig aber hält sich die Dichterin noch immer aufrecht, und
Lied um Lied entströmt ihr auch jetzt noch. Nur einen kleinen
Teil ihrer Lieder bringt die von Schrattenthal veranstaltete Sammlung;
dieses Wenige aber genügt, um Bewundernng zu erwecken für
eine Frau, die so belastet, so weltfern, nicht nur Geist und Gemüt
zu hoher Entfaltung gebracht, sondern auch ein seltenes Feingefühl
für Rhythmus und Ausdruck in sich entwickelt hat.
Selten empfindet sie das Elend als etwas Unerträgliches; immer
wieder ringt sie sich zur Entsagung und Ergebung durch, und manchmal
preist sie das Leid, wie einst Franziskus von Assisi. So in dem
tiefsinnigen Lied vom Bräutigam Schmerz und Schwester Leid.
Daher hat sie denn auch die eigene Not nicht gegen das Elend, das
rings um sie die Menschen bedrückt, verhärtet, sondern
ihr Mitleid eher noch vertieft. Gleich denen der Negri, haben auch
die Gedichte der Ambrosius vielfach einen socialen Zug, nur fehlt
ihnen durchaus das Revolutionäre, das Adlerhafte der Italienerin;
die Deutsche klagt wohl, aber sie greift nicht an und trotzt nicht.
Lautere Poesie atmet auch aus den Liebesgedichten und den Liedern
an die Heimat, in denen ein brünstiges Naturempfinden, ebenso
aber auch eine gute deutsche Besinnung sich offenbart! Hoffentlich
finden sich viele, die das Werkchen dieser "gefesselten und
doch innerlich freien Seele" kaufen.
|
Heinrich
Hart
Tägliche Rundschau Nr. 291 13.12.1894
Auszug, zitiert nach Johanna Ambrosius, Gedichte,
3. und 25. Auflage
zum Kopf der Seite

|
Heinrich
Hart bei wikipedia.de >>
zum Kopf der Seite |
Die Welt will betrogen und belogen sein
und nur mit Wahn geäfft und regieret werden.
Geb. Franck, Paradoxa
Es war ein volles, begeistertes Tönen und Klingen, das im verflossenen
Jahre urplötzlich durch unser litterarisches Leben ging.
Eine neue Dichterin war aufgestanden; wie ein Aschenbrödel war
sie von einem gütigen Geschicke aus all ihrer Niedrigkeit und
Armut, all ihrer Dürftigkeit und ihrem Elend endlich erlöst
worden.
Des Rühmens und Preisens wollte kein Ende sein.
Johanna Ambrosius, eigentlich Johanna Voigt, geb. Ambrosius, die arme,
kranke, alte oftpreußische Bäuerin, war in aller Munde.
Fast jedes Blatt und Blättchen brachte mehr oder weniger phrasenhafte
und schwärmerisch-rühmende Artikel über dieses "Wunder
Gottes" und ihre Liedersammlung, dieses "Ereignis von phänomenaler
Bedeutung". In Zeitschriften war das Bild der "deutschen
Sappho" zu finden, und Tageszeitungen und Provinzialblätter,
für die sonst Litteratur und Kunst gar nicht zu existieren scheint,
konnten dem Ambrosius-wütigen Publikum keinen größeren
Liebesdienst erweisen, als daß sie einige Zeilen aus der Feder
dieser "gottbegnadeten Frau" veröffentlichten.
Mit einem Schlage war Johanna Ambrosius berühmt, gepriesen, verehrt,
gefeiert, in den Himmel gehoben: mit einem Schlage war sie die populärste
Dichterin unserer Tage und den ersten Größen aus litterarischem
Gebiete an die Seite gestellt. Noch mehr: Prof. Dr. Karl Weiß
-Schrattenthal, der "Anwalt der deutschen Frauenlitteratur"
und Herausgeber der Gedichte von Joh. Ambrosius, berichtete in Nr.
23, Jahrg. 43 der "Illustr. Welt", daß wenige Tage
nach Erscheinen der ersten Auflage kein einziges Exemplar mehr in
seinen Händen gewesen sei und daß er den dadurch erzielten
Reingewinn von 1000 Mark der armen, kranken Frau übermittelt
habe.
Der ersten Auflage folgten bei solchem Abfalle natürlich in größter
Eile neue; gegenwärtig liegt - wenn ich nicht irre - die 25.
vor. Das heißt mit anderen Worten: aus der armen Dichterin ist
im Handumdrehen eine sehr wohlhabende Dichterin geworden: denn ...25
mal 1000 Mark giebt .25000 Mark. Wenn man zu dieser eminenten, ganz
wahrscheinlich noch zu niedrig angesetzten Summe die zahlreichen Geschenke
und Zuwendungen von PrivatPersonen, die Ergebnisse der um ihretwillen
veranstalteten Soireen und Konzerte, die Unterstützungen von
Stiftungen, die Spenden verschiedener Vereine, die Gaben vonseiten
Ihrer Majestät der deutschen Kaiserin u. s. w. hinzurechnet,
so kann man füglich behaupten, daß die arme Bäuerin
durch diese eine Gedichtsammlung zu einem Vermögen gelangt ist,
das unter den jetzt lebenden Dichtern wohl wenige aufzuweisen imstande
sein dürften.
Die ganze Verehrung und Begeisterung überschritt nach und nach
alles Maß: die Schwärmerei und überschwängliche
Verhimmelung ging nachgerade in einen förmlichen Taumel über
und gestaltete sich - wie Karl Busse gelegentlich sehr treffend bemerkt
- zu einem regelrechten "Rummel".
Angesichts solcher Thatsachen brennt die Frage auf den Lippen: "Wie
kam es, daß man der bisher völlig unbekannten Dichterin
bei Erscheinen ihres Erstlinges derartige Sympathien entgegenbrachte?
Wie war es möglich, daß dieses Liederbuch - noch dazu bei
einem Preise von 4 Mark - in rascher Folge 25 Auflagen erleben konnte,
während es doch selbst E. F. Meyer, jener großartige schweizerische
Poet, nur zu 8 Auflagen gebracht hat und die gesamte schriftstellerische
Welt unserer Tage die Misere über die Gleichgültigkeit des
Publikums gegenüber den poetischen Produktionen ständig
im Munde führt?"
Natürlich ist man zu glauben versucht, es handle sich hier um
eine dichterische Kraft ersten Ranges, einen Vollblutlyriker, groß
und genial, würdig, mit den gefeiertsten und vollendetsten Lyrikern
Hand in Hand zu gehen, herrlich und ohne Gleichen.
Inwieweit diese Annahme sich bewahrheitet, inwieweit diese Voraussetzung
sich bestätigt --insonderheit aber: was eigentlich den fast beispiellosen
Erfolg dieser Liedersammlung bewirkt hat, wolle man aus nachfolgenden
Darlegungen und Ausführungen ersehen.
Prof. Dr. K. Weiß-Schrattenthal ließ die Gedichte der
Johanna Ambrosius als die Schöpfungen einer Volks-und Naturdichterin
in die Welt gehen. Aus dem Munde eines Menschenkindes, das dem modernen
Leben mit seinen modernen Anschauungen bisher ferngestanden hat und
noch fernsteht, volkstümliche Rede-Verhältnissen hat leben
müssen, daß sie den Dreschflegel geführt und die Not
bei ihr ständig zu Gaste gewesen ist, daß sie infolge der
Ungunst ihrer Verhältnisse weder Lust noch Zeit zu Studien gehabt,
daß ihr zwölf Jahre kein Buch zu irgendwelcher geistigen
Anregung zugänglich gewesen ist, noch daß ihr sonst irgendwie
Anleitung zu teil geworden wäre, die eine Ausbildung und Vervollkommnung
ihrer dichterischen Anlage ermöglicht hätte.
Man wird also die Behauptung, Joh. Ambrosius sei eine Kunstdichterin,
auf Grund dieser im Vorwort sich findenden Angaben bekämpfen
und den Unmöglichkeitsbeweis damit zu führen suchen; Alb.
Goerth sagt: Man wird sofort mit einer wahren Flut von Entgegnungen
kommen. Allen diesen Entgegnungen und Einwänden wird jedoch sofort
die Spitze gebrochen durch ein einziges Wörtchen. Die im Vorwort
gemachten Angaben beruhen auf Unwahrheit. Der leichtgläubige
Herr Professor Dr. Weiß -Schrattenthal "hat sich eine Menge
Unwahrheiten einreden lassen und damit das Urteil des Publikums absichtslos
irre geführt."
Es ist ebenderselbe Alb. Goerth, der mit seiner Broschüre Licht
in diese dunkle Angelegenheit bringt. Er weist mit unzweifelhafter
Sicherheit --einem 63jährigen acht-und ehrbaren Herrn wie diesem
darf man wohl zutrauen, daß er die Wahrheit redet -- in derselben
nach, wie die ganze Lebens-und Leidengeschichte der "armen Bäuerin"
in der von Schrattenthal dem Buche vorangesetzten Gestalt weiter nichts
ist, als ein großartiges Lügengewebe. Mit peinlichster
und sorgfältigster Genauigkeit ist er allen Angaben auf den Grund
gegangen und hat dabei Thatsachen entdeckt, die mit dem Inhalte des
Vorwortes oft im grellsten Widerspruche stehen und von der Dichterin
freilich ein anderes Lebensbild entrollen, als es der leichtgläubige
Herr Professor dem ebenso leichtgläubigen, rührseligen und
urteilslosen Publikum übermittelt hat.
Johanna Ambrosius ist nicht die "Tochter eines armen Handwerkers."
Ihr Vater besaß in Titschken ein Haus mit einem Grundstücke
von 7 Morgen (1,75 ha), dessen Ertrag bei guter Beackerung und sparsamer
Wirtschaft bequem ausreicht, eine Familie bei bescheidenen Ansprüchen
zu ernähren. Arbeiterfamilien kommen schon mit 4 Morgen aus.
Außerdem brachte dem Vater Ambrosius das Geschäft des Viehschneidens,
das er besorgte, jährlich noch 1500 - 1800 Mark ein. Von Not,
Entbehrung und Elend hat also nie die Rede sein können. Die besten
Landlehrerstellen, ja selbst einzelne ländliche Pfarreien können
solch ein Einkommen nicht ausweisen. Die Familie Ambrosius hat sich
auch nicht zu den Armen gerechnet. Obwohl vier Töchter im Hause
waren, hielt man noch ein Dienstmädchen. Dies diene zur Beurteilung
der ganzen Verhältnisse. Wem werden da wohl die niedrigsten und
schwersten Land-und Stallarbeiten "anfgebürdet" worden
sein, der "zierlichen" Johanna oder dem Dienstmädchen.
Weiter, zum Schulbesuch bis zu ihrem elften Lebensjahre! Am 1. Mai
1860, 5 ¾ Jahr alt, trat Johanna in die unterste Klasse der
großen Kirchspiel-und Präzentorschule in Lengwethen, der
ein ganz vortrefflicher Pädagog vorstand. Das ist die kleine
Dorfschule! Elf Jahre alt verließ sie dieselbe und besuchte
bis zu ihrem 14. Lebensjahre die gleichfalls gute zweiklassige Schule
zu Titschken, wo sie wieder von einem trefflichen Lehrer unterrichtet
wurde. Das ist Schulbesuch bis zum 11. Lebensjahre! Von wem hat Herr
Schrattenthal diese Angaben. Wer ist schuld, daß er dem Publikum
ein X für ein U vorgemacht hat, und daß man ihn einer wahrheitswidrigen
Darstellung zeihen muß?
Sämtliche Land-und Stallarbeiten, die Johanna verrichten mußte,
werden selbst von den Töchtern der reichsten Bauern ausgeführt;
sie gelten weder für schwer noch irgendwie als erniedrigend.
Von den Leuten in Titschken wurden die genannten Mitteilungen mit
Lächeln aufgenommen.
Johanna hat sich die Finger nicht blutig gesponnen, um die geliebte
"Gartenlaube" lesen zu können. Nachbarinnen im Alter
der Dichterin behaupten, sie habe im ganzen Winter nur fünf Stück
gesponnen, eine herzlich geringe Leistung. Die "Gartenlaube"
wurde vielmehr deshalb gelesen, weil die Familie, der im Dorfe und
in der Umgegend Standeshochmut vorgeworfen wird, den Großen
im Dorfe, dem Herrn Pastor, dem Herrn Oberinspektor und dem Herrn
Präzentor nichts vorauslassen wollte. Nachbarn sagen aus, daß
sich besonders die Dichterin und ihre Schwester Martha durch Hochmut
und Dünkel hervorgethan haben. Wo bleibt da die Niedrigkeit und
das Elend? --
In dem überspannten Geschreibsel der Schwester Martha steht von
einem "Leib und Seele niederdrückenden Gehorsam" zu
lesen, den die Eltern von ihnen verlangt haben sollen. Es wird damit
also eine Anklage gegen die eigenen Eltern erhoben. Befreundete Familien
behaupten jeooch, daß nicht durch die Eltern, sondem durch die
Dichterin eine Art von Tyrannei ausgeübt worden ist, und daß
diese ihrer Mutter "durch Trotz, Widersetzlichkeit und schnippische
Reden oft böse Tage verursacht habe." Wer hat nach diesen
Aussagen noch Lust, sie als einen "Engel in Menschengestalt",
als eine "adlige Seele" zu preisen. Wäre sie dies nur
annähernd, so wurde sie es nicht über sich gewonnen haben,
die unwahre, gegen die eigenen Eltern gerichtete Anklage ihrer auf
jeden Fall etwas überspannten Schwester in ihr Buch aufzunehmen
und sie durch alle Auflagen desselben zu schleppen, lediglich zu dem
Zwecke "durch all die Nacht ihrer grenzenlosen Leiden" die
Herzen des Publikums zu rühren.
Um sich den Fesseln dieses "Leib und Seele niederdrückenden
Gehorsams" zu entschlagen, ist Johanna - wie ihre Schwester weiter
berichtet - in fremde Dienste getreten; hoffend, draußen das
zu finden, was ihre Seele entbehrte. Dieses unklare Gewäsch prägt
Alb. Goerth in gutes, klares Deutsch um, das den Leser nicht durch
allgemeine Lebensarten über Punkte, die für die Charakteristik
der Dichterin beachtenswert sind, hinwegzutäuschen sucht, sondern
die Sache beim rechten Namen nennt: Johanna wurde Wirtschafterin auf
einem großen Rittergute, blieb aber nur 3 Monate in dieser Stellung.
Es war nicht Enttäuschung oder freier Wille, daß sie schon
wieder ging; sie wurde, wie man landläufig sagt, "gegangen".
So erlischt und verbleicht nach und nach die ganze Gloriole, die so
unzählig viele um das Haupt dieser "wunderbaren Frau"
schimmern sahen; die rührsame Tragödie mit ihrem sentimentalen
Anstriche entpuppt sich als ein ganz gewöhnliches, dazu noch
unreelles Spektakelstück. Doch es kommt noch besser.
Die gute Schwester Martha, zu deren schwächster Seite es zu gehören
scheint: die Wahrheit zu reden, glaubt, die Dichterin um jeden Preis
als eine recht erbarmungswürdige und mitleiderweckende Unglückliche
zeichnen zu müssen; - aus welchem Grunde?--Die Antwort möge
mir erspart bleiben. Sie schreibt in ihrer Epistel weiter: "Um
die Freiheit, wie sie meinte, zu finden, reichte sie die Hand einem
einfachen, doch guten, wackern Bauerssohne, der ihr seit den Kinderjahren
treu und leidenschaftlich zugethan war. Johanna ging mit dem gewählten
Manne mit offenen Augen in die Armut und schwerste Arbeit. Stolz und
klaglos trug sie das selbstgewählte Schicksal, bis sie körperlich
gebrochen lag. Das Elend, das ganze Weh dieses umsonst ringenden bitterarmen
Gebens hatte sie gefaßt; und aus all der Nacht der grenzenlosen
Leiden hob sich die --Dichterin."
Alb. Goerth schreibt in seiner Broschüre hierzu: In dieser hier
wörtlich zitierten Stelle des Briefes ist fast jedes Wort unwahr,
zeugt jeder Satz von arger Überspanntheit und Phantasterei.
Herr Wilhelm Voigt hat aus wackerer Gesinnung, in edler Aufopferung
i h r, der Dichterin, die Hand zum Ehebunde gereicht, nicht, wie die
Schwester Martha sagt, sie ihm. Sie sollte ihrem Manne zeitlebens
dankbar sein, daß er sie geheiratet hat, und hätte diese
unwahre Darstellung ihrer Schwester öffentlich berichtigen müssen.
Sie ist nicht "mit offenen Augen in die Armut gegangen."
Der Vater ihres Mannes, der in Titschken und in der ganzen Gegend
sehr geachtete Grundbesitzer und Gemeindevorsteher Voigt, hatte anfangs
seine Zustimmung zu der Ehe seines Sohnes mit Johanna Ambrosius verweigert.
Die Gründe, die ihn dazu veranlaßten, wird jeder besorgte
Vater billigen. So trat der junge Mann infolge seiner edelherzigen
Aufopferung in der Aussicht auf schwere Sorgen seine Ehe an. Aber
der brave, fleißige, nüchterne und tüchtige Mann verzagte
nicht. Er erlernte bei seinem Schwiegervater das Gewerbe des Viehschneidens
und hatte dabei auch gar bald sein gutes Auskommen. Später kaufte
er sich in Gr. Wersmeningken ein Haus und ein 8 Morgen umfassendes
Grundstück. Dort hat er gut gewirtschaftet, und sein Nebeneinkommen
von 12 - 1500 Mk. jährlich hat es unmöglich gemacht, daß
von Not und bitterer Armut jemals die Rede sein konnte. "Das
ganze Wehe eines umsonst ringenden bitterarmen Lebens" hat nach
dem übereinstimmenden Urteil von glaubwürdigen, hochachtbaren
Zeugen, die sie genau kennen, Frau Johanna Voigt-Ambrosius mit ihrem
Manne Wilhelm Voigt nie kennen gelernt. Die von der Schwester gemachten
Angaben gelten allen als unwahr. Man vergleiche, um die Unwahrheit
recht klar zu ersehen, das Einkommen des Herrn Voigt mit dem eines
ostpreußischen Landlehrers! Derselbe erhält außer
freier Wohnung und Feuerung 750 -1200 Mk. --als Marimum -- als Jahresgehalt.
Darin stecken die Erträge der mit der Stelle verbundenen und
durch die Kgl. Staatsregiernug abgeschätzten Ländereien.
Hier ließe sich ein Liedchen vom "ganzen Weh eines umsonst
ringenden, bitterarmen Lebens" singen! Herr Voigt aber hat bisher
ein Einkommen gehabt, das sämtliche Lehrerstellen in Ostpreußen
beträchtlich übersteigt. Sämtliche Landlehrer würden
sich glücklich schätzen, wenn sie neben freier Wohnungund
Feuerung ein bares Gehalt von 800 -1200 Mk. und außerdem noch
den Ertrag einer Wirtschaft von 8 Morgen Land zur Verfügung hätten!
Trotz alledem ist und bleibt Johanna Ambrosius die arme, mit unsäglichem
Elend kämpfende Bäuerin --und über solchen Spiegelfechtereien
vergißt man die thatsächliche Not der am Hungertuche nagenden
Landlehrer. Das unlautere Gebahren der Schwester Martha, angesichts
der unbestreitbaren Thatsachen, daß die Lebensverhältnisse
der Dichterin auf jeden Fall günstige sind, solche Unwahrheiten
in die Welt hinauszuschreien und hinauszuposaunen, ist empörend;
das Verhalten der Dichterin, die solchem Humbug, unter dem ihr wackerer,
ehrenwerter Mann leiden muß, ruhig und ohne ein einhaltgebietendes
Wort zusieht, nicht weniger.
Soviel in den Hauptzügen nach Goerth --über den großartigen
Ambrosius-Schwindel, der fast alles in diesem Genre Dagewesene in
den Schatten stellt.
Alb. Goerth spinnt die Angelegenheit in seiner Broschüre noch
weiter aus. Er weist nach, daß von einem "Emporschwingen
und Emporarbeiten zu solcher geistigen Höhe" nicht geredet
werden kann, da die Dichterin niemals eine "Höhe" erreicht
hat; er legt eingehend dar, wie bei Johanna Ambrosius Bildungsgang
und Dichten zwei von einander unabhängige Dinge sind; er macht
die so rührenden und mitleiderweckenden Märlein von dem
Wissensdurste und geistigen Heißhunger der "Gottbegnadigten"
in kräftiger und überzeugender Weise vollständig zu
nichte.
Wer darüber mehr verlangt, wolle in dem Büchlein selbst
nachlesen. --
Hoffentlich beginnt es nach diesen Enthüllungen nun auch in den
weitesten Kreisen allmählich zu tagen, nachdem das Persönliche,
das den Erfolg geschaffen und diese Überschätzung und unsinnige
Schwärmerei hervorgerufen hat, endlich heruntergestreift worden
ist, und der Sache wahre Gestalt sich den verwunderten Blicken der
gründlich auf den Leim geführten Ambrosius-Verehrer darbietet.
Aus dem Platze in der Litteraturgeschichte, den Herr Karl Schrattenthal
der Dichterin erobern wollte, wird nun wohl nichts werden, und daß
man ihren Herzenswunsch, sie über Ada Negri zu stellen, nun nicht
erfüllt, darüber wird sie sich --sei es auch mit schmerzlicher
.Resignation über ihre "undankbare" Mitwelt trösten
müssen. Die Anfangsworte ihres poetischen Dankes an den "Dramatischen
Dilettantenverein" zu Königsberg, in denen sie von schnell
verrauchenden Weihrauchdüften und schnell verdorrenden Lorbeerblättern
spricht, sind an ihr selbst nur zu bald zur bitteren Wahrheit geworden.
|
Otto
Rühle:
Johanna Ambrosius. Eine menschliche Komödie
in: Monatsblätter für Deutsche Litteraturgeschichte, 1897
1. Jgg. Heft 1, S. 219-226 |
 |
Infos über Otto Rühle (Wikipedia) >>
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
|
Warum die Dichterinnen
sich immer noch auf dem Titel mit erborgten männlichen Federn schmücken,
ist mir unerfindlich. Sind die Gedichte schlecht, dann werden sie
doch nicht dadurch besser, daß sie einem Manne unterschoben werden!
Oder ist's vielleicht Bosheit von seiten des schönen Geschlechts,
nur oder erst dann die weibliche Flagge aufzuhissen, wenn sie etwas
Gutes verfrachtet haben, minderwertige Waare aber unter männlicher
Flagge segeln zu lassen? Gibt's nicht genug schlechte Dichter? Soll
die Zahl derselben auch noch durch falsche Pseudonyme vermehrt werden?
Und umgekehrt, warum soll nicht die Schar weiblicher Dichterinnen
offen und ehrlich sich den männlichen gegenüberstellen? Sonderbare
Wesen diese Frauen! Die schlechtesten Romane zeichnen sie mit ihren
berühmten Namen; die besten Gedichtsammlungen verhüllen sie schamhaft
unter einem männlichen Pseudonym ! Und doch beweisen die Veröffentlichungen
der letzten Jahre, daß auf dem Gebiete der Lyrik die Frauen mit den
Männern erfolgreich um den Kranz ringen, während auf dem Gebiete des
Epos im engern Sinn eine Frau überhaupt noch nichts Bedentendes geleistet
hat, auf dem Gebiete des Epos im weitern Sinn aber, dem des Romans
und der Novelle nur ganz wenige den Männern ebenbürtig sind.
Auch die uns diesmal vorliegenden lyrischen Dichtungen von Frauen
zeigen sie auf einer ganz respektabeln Höhe. Im Verhältniß zu der
Zahl männlicher und weiblicher Dichter sind die Frauen entschieden
im Vortheil, das heißt: es erscheinen, immer im Verhältnis, mehr gute
Gedichtsammlungen von Frauen als von Männern. Es wäre interessant,
den Gründen hierfür nachzugehen. Eine Vermuthung aber sei wenigstens
angestellt. Im Punkte des Versemachens und noch mehr in dem des Versedruckenlassens
ist die Eitelkeit der Männer größer als die der Frauen. Oder auch:
schnell fertig ist der Jüngling mit dem Druck, während die Jungfrau
sich immer noch eine Weile besinnt, ehe sie ihre poetischen Werke
der Oeffentlichkeit übergibt. Mit prosaischen steht's leider infolge
der Verführung und durch die Schuld der Familienblätter ganz anders:
da läuft jedes Schreibweibchen mit adeligem oder bürgerlichem Namen
ernsthaften Schriftstellern den Rang ab. Eines der gelesensten Familienblätter
zählt. unter den Zugstücken des neuen Jahrgangs, wenn ich recht gerechnet
habe, 90 Procent Frauennamen auf!
Doch das ist wieder ein anderes Kapitel; heute sind wir bei der Frauenlyrik.
Zu derselben hat Emil Roland, angenommener Name für Emmi Jansen, einen
sehr wertvollen Beitrag geliefert. Das ist wieder einmal eine Gedichtsammlung,
die man nicht blos beifällig durchblättert, sondern liest und genießt
und gewiß auch von seinem Bücherbret wieder herunterholt. Schon der
erste Blick auf die künstlerische Form, die fast durchaus untadelhaft
ist, gewinnt. Die Dichterin ringt nicht mit der Form, sondern diese
wird ihr ungesucht zum Ausdruck dessen, was sie empfunden hat. Und
zwar steht der Ausdruck stets auf dichterischer Höhe und sinkt weder
in Prosa herab, noch bewegt er sich im landläufigen frischen Gang.
Nur mit Verwendung der allerdings längst nicht mehr frisch hoffähigen
Nixen und Nymphen durfte die Dichterin sparsamer sein.
Dazu kommt ein durchaus eigenartiger Inhalt. Zwar die alten lyrischen
Stoffe müssen ja immer wiederkehren; indessen enthält die Sammlung
nicht ein Liebesgedicht, dagegen zwei zum Preise des Weines -- für
die Sammlung einer Dichterin immerhin bemerkenswert. Aber auch, wo
oft dagewesene Stoffe behandelt werden, klingt's eigenartig.
.........
Einfacher, weniger geistreich, das Wort im eigentlichen Sinne genommen,
sind die Gedichte von Johanna Ambrosius, aber sie sind noch unmittelbarere
Herzenspoesie, sie machen noch mehr den Eindruck, daß in dem Herzen
dieser Frau ein Liederborn quillt, der zu Tage muß. In dieser Sammlung
ist kein mittelmäßiges Gedicht, nichts was erdacht oder künstlich
zurechtphantasirt und mit etwas Kunst in die Form gebracht wäre: das
ist alles, wie es dasteht, im Herzen dieser Frau geworden und fast
immer in runder Form und echt dichterischem Ausdruck zu Tage getreten.
Daß die Gedichte aus dem Schmerz geboren sind , braucht man eigentlich
nicht erst in ihnen zu lesen: Mein
Freund
Dem Schmerze weih ich meine Lieder,
Er ist mir angetraut,
Legt sich des Abends bei mir nieder,
Weckt, wenn der Morgen graut.
Er steht vor meines Hauses Stufen
Mit bloßgezog'nem Schwert,
Hält alles fern, was ungerufen
Den Einlaß hier begehrt.
Nur manchmal ladet er zu Gaste
Sich seine Schwester Leid,
Die bleibt dann lang bei uns zu Raste
Und näht für mich ein Kleid.
Er ist mein treuester Gefährte,
Versorgt mich stets mit Wein,
Gießt, wenn ich schon den Becher leerte,
Mir gleich vom neuen ein.
Nun sagt, bin ich nicht zu beneiden,
Wer hat wol solchen Freund?
Der Tod allein nur kann uns scheiden,
So eng sind wir vereint.
Und der Schmerz ist echt, kein Tagesschmerzchen, kein eingebildeter
Dichterschmerz. Man suche deshalb auch nicht weltschmerzliche Lieder
üblichen Tons in diesen Gedichten: eine wunderbare Zufriedenheit legt
einen verklärenden Goldschimmer über dieselben, und jede Dissonanz
löst sich in echter Poesie. Bei aller Einfachheit sind diese Gedichte
doch tief gefühlt, und die Enge des Horizontes ist nur scheinbar;
es ist wie bei dem wirklichen Horizont: auch wenn er noch so eng ist,
man ahnt, daß dahinter doch die Unendlichkeit blaut.
Es ist schwer, Proben aus dieser Sammlung zu geben, denn fast jedes
Gedicht könnte eine Probe sein. Ich wähle zwei aufs gerathewohl:
Es ist genug.
Es ist genug! Hör' auf zu schlagen,
Im Staube liegt mein matt Gebein;
Du stillst des kleinsten Würmchens Klagen,
Soll ich allein vergessen sein ?
Willst mich vernichten, wohl, ich stehe
Gewärtig Deines Schwertes Zug,
Nur thu' mit Schlägen nicht so wehe
und halte ein. Es ist genug!
Es ist genug! Die Ketten brennen
Mit Höllenglut bis tief ins Herz,
Kein Wort kann ihn beim Namen nennen,
Den unermess'nen tiefen Schmerz.
Man löst dem Frevler seine Stricke,
Wenn zum Schaffot ihn treibt der Fluch,
Begnad'ge Du mit einem Blicke
Doch meine Schuld. Es ist genug!
Es ist genug! Ich hab' gelitten,
Was nur aus Erden Leiden heißt,
Im Kampfe bis aufs Blut gestritten,
Und tief verwundet ist mein Geist;
Sieh meiner Hände müdes Beben,
Hör' meinen schwachen Athemzug,
Du Richter über Tod und Leben,
Gib Frieden mir! Es ist genug!
Die alte Jungfer.
Da geht sie hin verspottet und verlacht,
Die noch am .Krankenbett die Nacht durchwacht,
Und jeder höhnt, der flüchtig ihr begegnet:
Der ist ihr Glücksfeld auch einmal verregnet.
Einst warst Du jung, ein schlankes Bögelein,
Sangst jubelnd in den schönen Tag hinein,
Den Frühling hat die Anmuth bald genommen,
Du weißt es kaum, so schnell ist es gekommen.
Der Sommer kam und fand zu Dir den Weg,
Doch brach gar bald des Glückes dünner Steg;
Wie auch das Weh im Herzen wild geflutet,
Es hat sich in der Stille längst verblutet.
Nun steht der rauhe Herbst vor Deiner Thür,
Nimmt sort die letzte karge Lockenzier,
Er gibt Dich preis dem scharfen Zahn der Sorgen,
und bang erwartest Du den Wintermorgen.
Getrübt ist nun der einst so weiche Blick,
Du siehst nicht vorwärts mehr, auch nicht zurück,
Nur ob zur Seite etwas liegt in Nöthen,
Da treibt's dein edles Herze nah zu treten.
Und immer bist zum Helfen Du bereit,
Kein Tag ist Dir zu heiß, kein Weg zu weit,
Gab man zum Danke Dir auch nichts als Hassen,
Vom Samariterdienst kannst du nicht lassen.
So geh nur hin, du vielgeschmähtes Weib,
Mit schöner Seele im verfallenen Leib,
Ans bitt'rem Spott und unverdientem Hohne
Erblüht dir einst die schönste Myrtenkrone.
Ich habe in meiner Besprechung keine Notiz von der Persönlichkeit
der Dichterin genommen; denn ich bin der Ansicht, daß die Kritik nicht
danach zu fragen hat, ob eine Dichterin hoch- oder niedergeboren ist,
und daß sie im letzten Fall sich nicht durch eine falsche Sentimentalität
bestechen lassen darf. Aber nun muß ich doch verrathen, daß Johanna
Ambrosius eine einfache Frau aus dem Volke ist, eine wenig begüterte
oftpreußische Bauernfrau in den bescheidensten Verhältnissen (geb.
1854). Die von Professor Schrattenthal, dem Mäcen der gesammten dichtenden
Weiblichkeit, geschriebene Einleitung gibt uns hierüber Auskunft.
Nicht blos ein paar mitleidsvolle Seelen, nicht blos die Dichterin
selbst, sondern vielleicht sogar die Geschichte der deutschen Lyrik
wird ihm dankbar sein, daß er sich um diese Dichterin angenommen hat.
Und er hat auch schon den Lohn seiner selbstlosen Bemühungen geerntet:
während wir dies schreiben, wird die vierte, vermehrte Auflage dieser
Gedichte vorbereitet.
Es ist merkwürdig, wie ungleich die dichterischen Gaben ausgetheilt
sind. Dichterisch angelegte Naturen, die im vollen Bildungsleben der
Gegenwart stehen, bringen es kaum zu mittelmäßigen Leistungen, und
Leute, die unverstanden auf dem Dorfe sitzen, kaum einen Berather
und Führer ihres Talents haben und abgeschlossen sind von dem lebendigen,
durch unsere Zeit fließenden Geistesstrom, bringen inhaltlich und
was fast noch wunderbarer ist, auch formell vollendete Gedichte hervor.
Mir ist beim Lesen der Schicksale von Johanna Ambrosius der schwäbische
Bauer Christian Wagner eingefallen, auf dessen Lebensschicksale zum
Theil fast dieselben Worte passen, die hier der ostpreußischen Bauernfrau
gelten, und der die Welt mit tiefsinnigen und geradezu gewaltigen,
auch in der Form oft ausgezeichneten Gedichten überraschte ("Sonntagsgänge",
Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer). Ob deshalb Schrattenthal's Schlußworte
zu Recht bestehen: "Stolz kann ein Volk sein, aus dessen untern Schichten
solche dichterische Stimmen ertönen", möchte ich aber dennoch bezweifeln.
Man hat sich von Giotto an nie gewundert und es nie dem ganzen Volke
angerechnet, wenn die Göttin Kunst sich den ärmlichsten Hirtenknaben
erwählte, dafern es sich nämlich um die bildende Kunst handelte. Aber
immer noch will man von der dichtenden Kunst nicht gelten lassen,
was man den Schwesterkünsten zubilligt: Kunst ist Gottesgabe, und
wo jede menschliche Voraussetzung zu fehlen scheint, ist sie da mit
wundersamen Offenbarungen. Johanna Ambrosius sollte ein Bild gemalt,
Christian Wagner eine Statue modellirt haben, welche in der bildenden
Kunft dieselbe hohe Stufe einnähmen, wie die Gedichte dieser beiden
Bauern in der dichtenden, und die ganze Welt wäre voll von ihrm Namen,
und jede Zeitung würde sich beeilen, der Mitwelt Kunde davon zu geben.
Aber Poesie -- ja Bauer, das ist ganz was anderes! Dichten kann ja
schließlich jeder, und so ein Bändchen Gedichte - du lieber Himmel,
der Vetter Hans und die Cousine Grethchen haben ganze Stöße voll!
Ist wirklich die Dichtkunst eine niedere Gattung als die bildende
Kunst? Es wird freilich unendlich viel zusammengedichtet, aber ebenso
viel zusammengeklext. Und es wäre erst noch fraglich, welche Kunst
bei Ausscheidung des Minderwerthigen mehr wirklich Werthvolles, wirklich
bleibendes geschaffen hat, die dichtende oder die bildende Kunst.
Vielleicht lebt noch manches Lied nach Jahrhunderten in den Herzen
der Menschen, wenn längst die heutzutage berühmten und unberühmten
Bilder in den Rumpelkammern vermodern.
Richard Weitbrecht |
Richard
Weitbrecht:
Frauenlyrik
in: Blätter für literarische Unterhaltung (Leipzig 1826-1898)
11, S. 171-174 14.03.1895
zum Kopf der
Seite |
zum
Kopf der Seite
zum Kopf der Seite |
Vor bald zwei
Iahren ist auch im Kunstwart den Lesern ein Gedichtbuch angezeigt
worden, das seitdem ganz unglaublich viel von sich reden gemacht
hat. Unser Kritiker besprach’s mit so freundlichen Worten,
wie er nur irgend verantworten konnte, denn was über die arme
Dichterin mitgeteilt wurde, hatte ihn zu Mitleid und Hilfsbereitschaft
gestimmt.
Trotzdem stand nicht nur zwischen sondern auch auf seinen Zeilen
zu lesen, daß er diese Poetin weder für eine echte Volksdichterin,
noch überhaupt für ein wirklich großes lyrisches
Talent halte. Hat das deutsche Volk, soweit es Gedichtbände
kauft, anders geurteilt? Thatsache ist, daß das Büchlein
der Frau Ambrosius mittlerweilen dreißig und einige Auflagen
erreicht hat.
Wir haben uns ausdrücklich zu der Verpflichtung bekannt ,
unsern Lesern von dieser Erscheinung noch einmal zu sprechen. Die
Sache verlangt es auch, aber gern thun wir's nicht. In einer Zwangslage
befand sich unser Kritiker, in einer Zwangslage jeder, der später
über die Ambrosius schreiben mußte, in einer Zwangslage
befinden auch wir uns ihr gegenüber noch heute. Tritt man doch,
wenn man den Ambrosius-Kult bekämpft, zugleich gegen eine Frau
auf, der persönlich man das gewonnene irdische Gut von Herzen
gönnt -- ja, man muß sich sagen, daß eine erfolgreiche
Bekämpfung dieser Mode ihren weiblichen Helden vielleicht in
eine schlimmere Lage versetzen würde, als die war, unter der
Frau Ambrosius früher litt. Wir wollen also , da wir's einmal
müssen, wenigstens mit möglichster Schonung der p e r
s ö n l i ch e n Verhältnisse der dichtenden Frau reden.
Wir wollen annehmen, daß sie in der That die durchaus edle
und würdige arme Bäuerin sei, als die sie von ihrer Schwester
hingestellt und von Schrattenthal urbi et orbi gezeigt worden ist.
Für die dichterischen Leistungen der Frau Ambrosius hat unser
Kritiker das Wort "eine Art von kleinbürgerlicher Kunstpoesie“
gebraucht, und das trifft wohl zu. Es ist, wie unser Mitarbeiter
ferner mit anderen Worten ausführte, Poesie, die in. Schatten
der Gartenlaube am Feierabend geschrieben ist auf einem Tischchen,
von dem man die Welt nur zwischen den Blättern hindurch sehen
kann, den Blättern, die in diesem Falle Namen wie Rittershaus
und Präger tragen, für jeden Freund echter Lyrik also
gefürchtete Namen. Frau Ambrosius war ein wenig begabter als
jene Nichtbegabten, gewiß ; hätte sie eine reichere Bildung
genossen, so hätte sie sich vielleicht sogar von ihrem Einflusse
befreit,-- aber ein starkes Talent hätte das wohl jedenfalls
gethan. Sie war begabter und das Leben griff sie härter an,
deshalb ist zwischen den Ritterhaus-Trägerschen Posen doch
öfters ein Stück Wahrheit zu sehen, das den Leser gewinnt
und erfreut, sie hatte wirklich gelitten, und das verschaffte ihr
Teilnahme. Aber diese gilt der armen Frau, deren Seele sich aus
dem Dunkel zum Licht sehnt, -- rührend, wie sie sich jedem
Streifen Helle zuwendet, der irgendwo aus der Welt da draußen
zu ihr hereindringt! Wäre sie nun eine wirkliche Dichterin,
sie spiegelte nicht nur dieses Licht, sie hätte selbst eine
ausstrahlende Seele. Aber alles persönlich Eigene fehlte ihr
eben. Eine Volksdichterin ist sie nun ganz und gar nicht, ist sie
auch nicht mit einem einzigen Gedichte. Wo wäre eine Strophe
bei ihr, die dem ursprünglichen Ringen nach Ausdruck noch so
unbehilfliche aber selbstgeschaffene und darum überzeugende
.Worte gäbe , wo sähen wir bei ihr den einzigen Quell
unmittelbar aus dem Boden, nicht schon durch eine Leitung kommen?
Sagen wir das jetzt, so gehört kein Mut mehr dazu, es hat
nichts Verblüffendes mehr -- andere Leute haben’s auch
schon gesagt, z. B. Goerth in seiner bei Lützenkirchen in Wiesbaden
erschienenen Schrift über die Ambrosius, ferner Busse in der
„Gegenwart“ und kürzlich Telmann, dessen Aufsatze
„über die Ambrosiasis“ im "Dichterhein“
wir uns überhaupt nur anschließen können. Man darf
getrost behaupten: unter vier Augen gefragt, werden von hundert
ernsten Kritikern neunzig, von hundert ernsten Dichtungsfreunden
im Publikum neunzig bekennen, daß sie die Ambrosius für
eine .Reimerin halten, wie deren ebenso begabte alljährlich
zu Dutzenden auftauchten und wieder vergessen worden. Unter den
zahlreichen „Volksdichtern“, die jetzt „entdeckt“
worden sind, ist sie vielleicht das kleinst e der wirklichen Talente.
Sie die deutsche Ada Negri zu nennen, ist beinahe lächerlich.
Und sie hat den größten äußeren Erfolg gehabt,
der jemals einem deutschen Lyriker geworden ist, einen viel großeren
nicht nur, als die hervorragenden Talente unter den Lebenden, nein,
auch als Lenau, Heine, Mörike, Uhland errungen haben, ja, als
mit ihren Gedichtbänden die beiden großen Sonnen unsrer
Poesie Schiller und Goethe!
Wie ist dieser Wahnsinn zu erklären ? Darüber sind nun
ja alle klar, dass unser Volk seine Kränze auch den Dichtern
nicht nach ihrer k ü n st l e r i s ch e n Bedeutung austeilt.
Wir haben uns auch darüber schon früher versprochen, dass
ein g r o ß e r Künstler so s c h n e l l e Erfolge gar
nicht erzielen k ö n n t e , weil er der Allgemeinheit stets
ein Stück voraus sein muss. War es also der menschlich ansprechende
Gehalt, der Frau Ambrosius ihren Erfolg verschaffte? Nach allen
Richtungen des Seelenlebens hin haben sich andere schöner,
reicher, wohltuender entfaltet. War es das Mitleid mit dem leidenden
Menschen in ihr, der ihr Scherflein auf Scherflein zuwenden wollte?
Das war es wohl, und aus dem Absatz ihrer Verse wurde dann trüglich
zurückgeschlossen sie müßten wohl auch vortrefflich
sein. Aber es war nicht das allein. Es ist eine Mode im Spiel ,
und die Moden werden nicht nur vom Publikum gemacht, sondern auch
von den Schneidern. Es wir lehrreich sein, dem Entstehen dieser
Mode nachzugehen und ein paar Schlüsse daraus zu folgern.
Die Gedichte der Ambrosius wurden herausgegeben nicht von ihr selbst,
sondern von Karl Schrattenthal mit einer Einleitung von diesem ,
und nicht unter dem Titel „Gedichte von Johanna Ambrosius“,
sondern unter dem: „Johanna Ambrosius , eine deutsche Volksdichterin“.
Man muss das beachten:, von ihrem ersten erfolgreichen Auftreten
an wirkte Frau Ambrosius nicht durch sich selbst, sondern wie ein
Sensationsbild , neben dem Schrattenthal, der langjährige Impresario
für Damenliteratur, mit dem Erklärerstocke stand. Nun
würde dieser Literat zum wenigsten bei der Kritik jetzt so
wenig wie in früheren Fällen mit seinem Star Glück
gemacht haben, hätte er nicht im Begleitwort vielerlei mitgeteilt
, was die Herzen wohl ergreifen m u ß t e.Heute ist dieses
Vielerlei mannigfach angefochten, damals mußte man’s
bar in Zahlung nehmen.Und es regte besonders einen warmherzigen
Berliner Kritiker an, zumal die „Volks-Dichterin“ gut
seinen sonstigen Tendenzen entsprach, einen Kritiker, den seine
allzu schnellen Begeisterungen schon mehrmals recht in die Irre
geführt haben, der aber als einer der wenigen Rezensenten sowohl
von reichem Wissen wie von guter Ehrenhaftigkeit gerade unter seinen
Berufgenossen mit Recht geschmäht wird. Nun rauschte der ambrosianische
Lobgesang auf, und bald rauschte er durch alle deutschen Blätter
Laßt uns an unsre Brust greifen, ihr Herren von der Feder:
ohne die Dithyramben der Presse hätte sich diese Mode denn
doch nicht halb so weit und nicht ein Zehntel so schnell verbreitet,
wäre sie nie so ungeheuerlich geworden. Wir sind nicht ihre
einzigen Macher, noch ihre mächtigsten Macher, aber ihre Mitmacher
sind nur gewesen und wir haben sie in allen Literaturkramläden
empfohlen.
Es folgten bürgerliche, adelige, hochadelige, prinzliche,
königliche, kaiserliche Unterstützungen, Anerkennungen,
Aufzeichnungen für die „Dichterin im Bauernkleide".
Die Unterstützungen waren zu gönnen, die Anerkennungen
auch , die Auszeichnungen kann man den Auszeichnern nicht übel
nehmen , denn auch die königlichen Hoheiten sind nicht verpflichtet,
etwas von Poesie zu verstehen. Und guckten sie nach den „Sachverständigen“,
ei, die wanden ja um Frau Ambrosius eine gering geschätzt zehn
Meter lange Guirlande aus eitel Lorbeerkränzen. Ich möchte
wissen, was jetzt z. B. der Verein Berliner Presse darum gäbe,
daß ein gewisser Abend aus seinen Annalen getilgt werden könnte,
ein Abend, an dem kein kleinerer als er, als Sudermann, die Volksdichterin
in richtiger Körperlichkeit vor den Berlinern ausstellte. Wie
bezeichnend für das „Sensationelle“ des ganzen
„Rummels“, für das erbärmlich Oberflächliche
dieser Sorte von Poesieund Wohlthätigkeitspflege , menschlich
wie widerlich diese Posse !
Und mit den Journalisten machten diesmal die Professoren gemeinsame
Sache. Wenn ein Mann wie Herman Grimm für die Dichterin Ambrosius
eintrat, so verwundert das Kenner dieser Persönlichkeit nicht
gar zu sehr; Grimm ist ein wirklich geistvoller Mann, aber eine
Natur von solcher Lust daran, „anders" zu sein , daß
ich überzeugt bin: er könnte sich für eine Mode begeistern,
weil gescheite Leute seiner Umgebung sie angreifen. Liest man, was
er in der "Deutschen Rundschau" geschrieben hat, so überrascht
etwas anderes, was leider eigentlich auch nicht sehr überraschlich
ist: wie kann Grimm so schreiben, fragt man sich, wenn er die gegenwärtige
deutsche Literatur kennt. D a liegt's hier, d a s ist typisch :
bis auf ganz wenige rühmliche Ausnahmen wissen unsere akademischen
Lehrer gar nicht , was heute in der Literatur , was auch in der
Lyrik von lebenden Deutschen geleistet wird. Die wunderliche Autosuggestion
unserer älteren deutschen Literaturgeschichtsschreibung, daß
mit Goethes Tode die Sache doch eigentlich aus sei , sie spukt in
den Köpfen der Herren noch heute gar vielfach.
Lesen sie dann doch einmal ein modernes Gedichtbuch , so stehen
sie ihm ganz drollig unbeholfen gegenüber. Was zu seinem Verständnis
Vertrautheit mit der Literaturentwickelung der letzten Jahrzehnte
voraussetzt, es muß ihnen ja verschlossen bleiben , weil ihnen
diese Kenntnis fehlt, -- aber sie finden ihnen Verständliches
, wo die ihnen vertrauten Leute noch anklingen, wo also etwa, wie
bei der Ambrosius, der Klassizismus, wenn auch im letzten Epigonentume,
noch nachhallt. Von dem Verhältnis zur Kunst, das das beste
wäre, von einfach n a i v e r Beurteilung , kann ja bei ihnen
schon gar nicht die Rede sein.
Eine dritte Gruppe von Ruhmesverkündigern für unsere Ostpreußin
stellten die Frauen, auf die jetzt bei dieser Gelegenheit sehr viel
gescholten wird. Uns scheint es falsch, sich ohne Einschränkungen
über die Poesiepflege seitens der deutschen Frauen lustig zu
machen ; Gott sei es geklagt , den Frauen aber bedankt, daß
sie seit der Zeit der ästhetischen Thees so ziemlich allein
die Käufer für Lyrik gewesen sind. Es war nicht ihre Schuld,
wenn unsere Lyrik ein wenig verweibte; wo diese stark und männlich
war, hat sie ihr kleines Publikum zum größten Teile doch
auch gerade aus hochstehenden Frauen gesammelt. und es ist irrig,
die Frauenwelt der Literatur gegenüber für beträchtlich
unkritischer zu halten, als die der Männer: Im Allgemeinen
ist den .Herren und Damen bei uns das Gefühl für das Wesentliche
im Kunstwerk wohl ungefähr im gleichen Maße verkünmmert.
Nun ward den Frauen auf einmal gesagt: hier leidet eine hochstrebende
Dulderin, und ihr könnt helfen, und gleichzeitig tönte
ihnen zu : Hosiannah, wir haben eine Königin der Poesie: "diese
Dichterin ist ein Wunder Gottes, da ist wahrhaft klassische Schönheit
, wie wir sie nur bei unseren Dichtergrößen ersten Ranges
finden." Die guten Herzen und der Stolz aufs eigene Geschlecht
wurden also zugleich von den Herren der Schöpfung angerufen,
die ja doch immer noch bei den Damen im Stillen gar oft für
die gescheitere Menschenart gelten. Wie kann man ihnen daraus Vorwürfe
machen , daß sich ihre Seelen für Johanna Ambrosius bis
zum Ueberkochen erwärmten? Warum hob denn die Mode die anderen
„Naturdichterinnen“ nicht hoch, deren manche dessen
würdiger waren, als der Schwan von Groß-Wersmeninken?
Weil wir Männer sie nicht den Frauen anpriesen, als hätten
sie uns gleich einer Offenbarung erschüttert. Es bleibt dabei:
wir Federleute tragen die Hauptschuld. Daß unsere deutsche
Literaturtritik trotz all der üblen Erfahrungen, die sie nachgerade
gesammelt hat, auch in ihren immer noch besten Vertretern ziemlich
unzuverlässig ist -- wir wollen uns diese häßliche
aber nützliche Lehre ans der Ambrosius-Zeit doch lieber nicht
verschleiern.
Sie mahnt uns Kritiker auf das eindringlichste: Prüfet euch,
wie ihr nur prüfen könnt, daß ihr nicht künstlerische
und andere Urteile vermengt. Wenn euch das Mitleid und die Freude
all einer menschlich schönen Erscheinung erwärmt, so seid
doppelt vorsichtig auf der Hut, daß sie euch nicht die Sachlichkeit
in der Ausübung dessen verwirren , was eures Amtes ist. Hättet
ihr, hätten wir (auch der Kunstwart spricht sich ja hier von
Mitschuld nicht frei) unmißverständlich klar gesagt :
hier ist eine nicht unbegabte Dilettantin, die keine Unterstützung,
aber eine Frau, die reichliche verdient, das Durcheinanderwerfen
der verschiedenen Maßstäbe wäre auf den immerhin
doch weit kleineren Kreis der in künstlerischen Dingen g ä
n z l i ch Urteilsunfähigen beschränkt geblieben ; die
unerhörte Beeinflussung des Publikums durch die g e s a m t
e siebente Großmacht mit allen ihren Agenten vom Botschafter
in Berlin bis zum Gemeinderat in Kyritz-Pyritz wäre ausgeblieben.
Jetzt ist es erreicht , daß Hunderttausende der an Dichtungen
überhaupt beteiligten Minderzahl ihren Geschmack, ihr Urteil
an Werken bilden, die tief, tief unter dem Guten stehen, was unser
Volk seit seinen Klassikern als festes Eigenthum haben sollte, und
haben konnte, wäre dafür je eine ähnliche Bewegung
ins Werk gesetzt worden, wie für die Verse der Frau Ambrosius.
Und das Mitleid selbst, war es berechtigt ?
Wann wäre denn Mitgefühl mit Leiden nicht berechtigt!
-- so liegt die Frage nicht, sondern so: hätten die hier angewendeten
Hilfsmittel nicht zweckmäßiger anders verbraucht werden
können ? Gewiß, es war herzlicher Menschen schönes
Recht, einer unzweifelhaft feiner veranlagten Frau die Möglichkeit
zu feinerer Lebensführung zu vergrößern. Was aber
berechtigte, so viel Kraft auf diesen einen Fleck zu verschwenden,
den nun plötzlich ein Zufallsglück in der Gebelaune mit
Mitteln überschwemmte, auf die andere Volksdichter und Volksdichterinnen
(wenn man denn einmal bei solchen bleiben wollte) zum mindesten
ebensoviel Anspruch hatten ? Und sind wir denn blind, daß
wir nicht sehen, in wie viel größerem Leide unter den
Gebildeten geistig hoch geborene und entwickelte Menschen leben,
ohne daß sich unser Mitleid in thätige Hilfe umsetzt
? Nein, ihr Männer und Frauen , nicht das ist das größte
Martyrium, in dem Lebenskreise, in dem man geboren und erwachsen
ist, ohne viel Sorge, in gesund-arbeitsamen Verkehr mit der Mutter
Natur zu schaffen und in den Mußestunden ein bescheidenes
Talent nachreimend zu üben , mag einem das körperliche
Arbeiten auch einmal sauer werden, mag man sich auch, ohne allzuviel
Grund , ob etwas angelesenen Wissens über seine Umgebung erhaben
dünken, mag man sogar an dem Wunsch zu tragen haben, einen
Sohn in einen „höheren“ Stand versetzen zu können.
Das, beispielsweise, ist jedenfalls n o c h schlimmer : den leidenschaftlichen
Drang einer st a r k e n Begabung in sich zu fühlen, mit kühnem
Entschluß schon in der Jugend die Ketten zerrissen zu haben,
die da bändigten, Kenntnisse nicht nur Sonntags aus dem Familienblättchen,
sondern allabendlich und allnächtlich mit eisernem Fleiße
erzwungen zu haben, dann als tüchtiger Könner, als eine
wirkliche Kraft dazustehen -- und nun erbärmlich frohnen, seine
Begabung verderben, ja mißbrauchen und gar entehren, die Seinen
aber an all dem mit dulden lassen zu müssen , weil kein Geld
im Kasten klingt, das heißt: weil das eigene Volk die geleistete
Arbeit verachtet, die vorhandene Kraft verkommen läßt,
da es sie nicht versteht. Männer jedoch und Frauen, die dem
Aehnliches von sich sagen dürften, leben in deutschen Landen
zu Hunderten. Jeder, der in der Welt der Dichter, der Komponisten,
der bildenden Künstler Umschau halten kann, weiß von
solchen edeln Kämpfenden. Freilich, ein jeder erkennt sie nur
unter Leuten , die er auch als Menschen nahe kennt , denn diese
Dulder sind nicht die Jammerer , von denen jüngst Weber im
Kunstwart sprach. Sie, unter welchen mancher mit hochgelobtem Namen
ist, reden der Oeffentlichkeit von ihren Leiden nicht. Und versuchte
irgend ein Schrattenthal eine große nationale Rührung
für sie zu werben, sie wiesen vielleicht auf die Tausende von
Volksgenossen, die nicht gerade an solchen Künstler- aber an
anderen Schmerzen ähnlicher weil auch zugleich geistiger, sittlicher
Art kranken, und verlangten vor ihnen nichts voraus.
Die große Welt der Leser kann niemals wissen, wie es dem
Künstler im einzelnen Falle wirklich ergeht. Die Anfechtung
der Schrattenthalschen Angaben über die Ambrosius weist darauf
hin , daß selbst klar gegebene Daten nicht immer Gewisses
bedeuten. Wo man sicher zu sein glaubt, daß man dem Menschen
im Verfasser eines Buches helfen soll und wo man ihm helfen kann
, selbstverständlich , da helfe man ihm -- aber um unserer
Literatur und ihrer Zukunft willen: ohne deshalb den Dichter als
Dichter höher stellen zu wollen , als ihn seine eigenen Leistungen
gestellt haben. Die Dichtung aber, die Dichtkunst kann man nur dadurch
fördern, daß man allein die besten Bücher, diese
aber soviel es nur die eigenen Mittel erlauben, kauft.
Für die altanerkannte Thatsache, daß wir trotz allen
Dichter und Denkertum-Stolzes kein „literarisches Volk“
sind, liegt ja auch darin ein betrübender Beweis, daß
wir so gar keine Verpflichtung gegen unsere Poeten fühlen.
Die wohlhabende Dame sieht mit heiterer Verachtung auf den armen
Buben, der durch den Bretterzaun in die Arena schielt, aber sie
borgt sich mit größter Gewissensruhe ein Gedichtbuch
und macht sich so selber zum Zaungaste des Poeten. Nein, Verehrte
, selbst wenn sie eine Leihgebühr zahlen, so ändert das
die Sache nicht wesentlich, so ist das nur, wie wenn Sie draußen
dem Jungen einen Groschen geben , auf daß er sie auf seinen
Karren steigen lasse, -- oder auch, wie wenn Sie mißbräuchlich
die Eintrittskarte eines anderen benutzen. Es ist doch nicht das
gedruckte Papier , was wir mit einem Gedichtbuch erwerben, sondern
der Genuß der Dichtung, den dieses gedruckte Papier uns vermittelt.
Wers nicht anders k a n n , -- lieber Gott , mag er literarischer
Zaungast bleiben, wer's aber anders kannte, den sollte sein Ehrgefühl,
sein Stolz davon abhalten, sich , höflich ausgedrückt
, von einem Poeten was schenken zu lassen. Zumal, da er in der sehr
überwiegenden Mehrzahl der Fälle davon überzeugt
sein kann, daß er durch seine Schäbigkeit nicht nur den
Poeten, sondern auch die Poesie schädigt. Denn in einer wirklichen
ernsten Dichtung steckt so viel Arbeit auch und Zeit, daß
selbst ein guter Absatz nur eine bescheidene Entgeltung bedeutet.
Die echten Poeten sammeln keine Reichtümer, und ich spreche
nicht dafür, daß sie welche sammeln sollen; der Künstler
findet seinen Lohn ja in anderen Dingen als die Leute vom hohen
Trapez oder vom hohen C. Ich meine nur, ein Volk wie das unsere
müßte auch ihm die Möglichkeit geben können
, in ungehetzter Arbeit sein Talent zu vertiefen und schaffend zu
bethätigen - nicht um des Poeten, nein, um der geistigen Güter
unseres Volkes willen. Ehe nicht das Würdelose der jetzigen
Leih- und Schnorr-Gebräuche allgemeiner empfunden wird, kommen
wir aber so weit nicht, daß auch hier dem Arbeiter entgilt,
wer seiner Arbeit genießt, und daß er so weitere gute
Arbeit möglich macht. Wir wundern uns, wenn wir mit jedem Jahrzehnt
Talente verflachen sehen, deren erste Werke so Tüchtiges hoffen
ließen -- ein jeder kennt ja die Namen, auf die ich deute.
Dann heißt’s sie schreiben für die Masse, sie machen
den Pegasus zum Droschkengaul, der vermiethet wird. Ach, echt künstlerische
Arbeit ist so schön, daß man mit Wonne bei ihr geblieben
wäre, statt mit innerem Ekel schreibend der Lesegier zu frohnen.
Aber die Poeten und Weib und Kind müssen leben, und da man
ihre Arbeit nimmt ohne sie zu bezahlen, so werden Tagelöhner,
die Künstler geworden wären, wenn man ihre ersten Bücher
gekauft hätte, statt sie reihum zu borgen.
Wahrlich, gäbe man endlich unsern Dichtern ihr Recht, sie
verzichteten von Herzen gern auf all die gelegentlichen Gnaden.
Sind wir von der Lyrik der Frau Ambrosius schließlich auf
allzu prosaische Dinge gekommen? Von dem Gelde, das unser Volk für
ihre Verse ausgegeben hat, hätten zehn wirklich kräftige
dichterische Talente je zwei Iahre lang ihrem Berufe leben können
--diese Erwägung allein gewährt hier wohl der Prosa das
Recht auf Beachtung. Sie weist darauf hin, daß es im letzten
Grund außer unsern Künstlern unsere Kunst ist, was unter
solchen Volkslaunen leidet, wie es die Kunst ist, die leidet, wenn
einer unbedeutenden Erscheinung der Wert kanonischer Größe
angepriesen wird. |
A.
[Ferdinand Avenarius]
Ambrosianische Lehren
in:
Der Kunstwart. Rundschau über Dichtung, Theater, Musik und
bildende Künste. Herausgeber: Ferdinand Avenarius
9. Jgg. H. 24, S.369-73, 1896
Ferdinand
Avenarius bei wikipedia >>
zum Kopf der Seite |
Der nordöstliche Zipfel von Ostpreußen
ist die Heimat von Johanna Ambrosius, wo sie am 3. August 1854 in
Lengwethen, einem Kirchdorf im Kreise Ragnit, als zweites Kind eines
kleinen Handwerkers geboren wurde. Da ihre Mutter jahrelang krank
war, mußte sie zusammen mit ihrer älteren Schwester schon
in frühester Jugend in Haus und Wirtschaft schwer arbeiten.
Ihre Schulbildung erhielt sie in der Dorfschule.
Man hat später von Johanna Ambrosius gesagt, daß sie
eine Naturdichterin mit einem angeborenen Talent gewesen sei, was
aber nicht ganz stimmt. Wenn sie auch nur die Schule ihres Dorfes
besucht hatte, so hatte ihr diese doch durch ihren Lehrer viel mitgegeben.
Dieser Lehrer war ein Mann, den sich, wie es viele ostpreußische
Dorfschullehrer taten, auch nach Beendigung der Schulzeit um die
Fortbildung seiner Schüler und Schülerinnen kümmerte,
wenn sie ihm förderungswürdig erschienen. Das beweist
auch das Gedicht von Johanna Ambrosius, das sie dem "hochverehrten
Herrn Präzentor Kerner zu Lengwethen zu seinem 76. Geburtstage"
gewidmet hat. Darin heißt es:
Die Kinderzeit mit deinem Angesichte/
Blieb mir getreu ein Stern in dunkler Nacht,/
Er hat mit seinem märchenhaften Lichte./
Erst meinen Geist zur Flamme voll entfacht.
Hinzu kam, daß der Vater der beiden Mädchen sehr viel
las und ihnen erlaubte, die 'Gartenlaube', das damals bekannteste
Familienblatt, zu beziehen. Durch die 'Gartenlaube' wurde das spätere
dichterische Schaffen, von Johanna Ambrosius sehr beeinflußt.
Aber bis aus ihr eine Dichterin wurde, verging noch viel Zeit. Zunächst
heiratete sie im Jahr 1874 einen Bauernsohn, der nach einiger Zeit
eine kleine Landwirtschaft mit strohgedecktem Häuschen in Gr.
Wersmeninken bei Lasdehnen erwarb. Aus der Johanna Ambrosius war
eine Johanna Voigt geworden. Hier mußte sie im Haus und auf
dem Feld hart anfassen und dabei noch ihre beiden Kinder aufziehen.
Um die 'Gartenlaube' oder Bücher zu lesen, fehlte ihr daher
die Zeit, so daß sie ohne geistige Anregung war. Dennoch muß
ihr hin und wieder doch ein Stündchen zum Nachdenken übrig
geblieben sein, denn im Jahr 1884 ließ sie durch ihre Schwester
Martha an die Herausgeberin des Blattes ,Von Haus zu Haus', Anny
Wothe, und einige andere Blätter mehrere Gedichte unter ihrem
Mädchennamen einsenden, die auch gegen geringe Honorare veröffentlicht
wurden. Der erhoffte große Erfolg, auch in finanzieller Hinsicht,
blieb aber aus.
Ende des Jahres 1894 begann dann der märchenhafte Aufstieg
von Johanna Ambrosius. In Preßburg, dem heutigen Bratislava,
das damals zu Österreich-Ungarn zählte, gab es einen Professor
Karl Weiß-Schrattenthal, der dem dichterischen Wirken der
Frauen gewidmete Werke herausgab. Er ließ kein Mittel unversucht,
um Frauen aus dem Volke mit lyrischen Begabungen ausfindig zu machen.
So entdeckte er auch Johanna Voigt, geb. Ambrosius, was wohl sein
bester Fund war. Er gab vor Weihnachten 1894 im Selbstverlag die
erste Ausgabe ihrer Gedichte heraus, die so viel einbrachte, daß
er der Dichterin noch zu den Feiertagen fünfhundert Mark (Goldmark!)
als Honorar überweisen konnte. Die Nachfrage war so groß,
daß in wenigen Tagen die ganze Auflage restlos vergriffen
war.
Johanna Ambrosius war kometenhaft am geistigen Himmel als Lyrikerin
erschienen wozu auch eine hervorragende Kritik in den deutschen
und vielen ausländischen Literaturzeitschriften beitrug. Im
Sommer 1895 zog der Verlag nach Königsberg um, die Gedichte
erschienen jetzt bei Thomas und Oppermann (Ferd. Beyers Buchhandlung),
und der Druck erfolgte in der Hartungschen Buchdruckerei. Auflage
nach Auflage folgte. Dreizehn Monate nach dem Erscheinen der ersten
Auflage erwies sich schon die fünfundzwanzigste als notwendig.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts erreichte der Gedichlband bereits
die 43. Auflage, und daneben wurde noch ein zweiter Teil in zahlreichen
Auflagen verlegt. Johanna Ambrosius war über Nacht eine deutsche
Berühmtheit geworden.
Der erste Teil ihrer Gedichte erschien auch in einer englischen
Ausgabe. Zahlreiche Nahrungen erfuhr die einfache Bauersfrau, die
mit ihren unter sehr ungünstigen Verhältnissen entstandenen
Dichtungen ein, wie es in den Stimmen der Presse hieß, literarisches
Wunder geworden war. Zahlreiche Huldigungen wurden der ostpreußischen
Dichterin dargebracht.
An einem ihr zu Ehren in Berlin veranstalteten Festessen nahmen
viele Größen des deutschen Geisteslebens teil, so Ernst
Wichert, der lange in Königsberg wirkte, sowie Friedrich Spielhagen.
Hermann Sudermann führte bei diesem Essen seine Landsmännin
zu Tisch. Die deutsche Kaiserin wollte die Dichterin kennenlernen
und empfing sie, wahrscheinlich weil sie in dem Gedicht ,Dem Liebling
des Volkes' Gott gebeten hatte, Kaiser Friedrich III. wieder gesunden
zu lassen.
Aber die Dichterin fand nicht nur wohlwollende Kritik. Es gab auch
Kritiker, die an ihrer Dichtung etwas auszusetzen hatten. In mehreren
Gedichten 'An die literarische Kritik' beklagt sie sich hierüber.
In einem heißt es:
"Menschen, ich bitt' euch, laßt
mich in Frieden!
Habe euch allen nichts Böses gethan/
Gönnt mir doch meine ureigenen Gedanken./
Die ich vom Vater als Gnade empfahn."
Die Dichtungen von Johanna
Ambrosius waren keine Kunstwerke, und manche Reime waren nicht die
besten. Das empfand sie auch selbst und schon im Geleitwort zur
ersten Auflage ihres Gedichtbandes schrieb sie:
Richtet nicht nach Form und Rhythmen.
Davon hab' ich nichts gelernt,
Denkt, es sind bescheidne Blüten,
Hie und da vom Tau besternt;
Hie und da vom Sturm zerbissen,
Wie sie bieten Feld und Flur,
Meinem Herzen all' entrissen '
Gleich der Mutterbrust Natur.
Es ist nicht zu unterschätzen, daß schon damals eine
vereinsamte, tagtäglich in Stall und Feld herumhantierende
Frau zur beredten Sprecherin Ostpreußens wurde. Sie hat die
spröde Schönheit ihrer ostpreußischen Heimat geschildert,
ihr Häuschen beschrieben und aus dem Leben ihres kleinen Dorfes
an der äußersten Ostgrenze Deutschlands erzählt.
Dafür sollte man ihr auch noch heute dankbar sein.
Johanna Ambrosius stand nicht sehr lange als gefeierte Dichterin
im Mittelpunkt des Interesses. So steil wie sie emporgestiegen war,
so jäh erfolgte auch der Absturz. Als der Erste Weltkrieg ausbrach,
sprach man kaum noch von ihr. Schon im Jahre 1895 hatte Johanna
Ambrosius ein Dankschreiben an den Dramatischen Dilletantenverein
in Königsberg mit den Worten begonnen: "Wie bald, wie
bald werd' ich vergessen sein!" Sie hatte also ihr Schicksal
schon vorausgeahnt.
Im Jahre 1939 ist sie als 85jährige in Königsberg verstorben.
Aber 'vergessen' ist die Dichterin bis heute nicht. Die Ostpreußen
haben die Erinnerung an sie bei der Vertreibung mitgenommen. Sehr
oft liest man im Ostpreußenblatt in Berichten über landsmannschaftliche
Veranstaltungen, daß von zumeist jugendlichen Chören
das rnehrfach vertonte Gedicht ,Mein Heimatland' vorgetragen wird.
Es ist als Lied der Heimat "Sie sagen all', Du bist nicht schön"
mit dem Schlußvers "Ostpreußen, hoch! mein Heimatland,
Wie bist Du wunderschön!" allgemein bekannt geworden.
|
Erwin
Gutzeit
Sie galt als ein literarisches Wunder
Erinnerungen an die vor 125 Jahren geborene ostpreußische
Lyrikerin Johanna Ambrosius
Das Ostpreußenblatt
04. 08. 1979
mit Foto
vom Wohnhaus der Dichterin
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
|
Sie
sagen all' du bist nicht schön,
mein treues Heimatland,
du trägst nicht stolze Bergeshöh'n,
nicht rebengrün Gewand;
in deinen Lüften rauscht kein Aar,
es grüßt kein Palmenbaum,
doch glänzt der Vorzeit Träne klar
an deiner Küste Saum
Und wenn ich träumend
dann duchgeh',
die düstre Tannenpracht,
und hoch diemächt'gen Eichen seh'
in königlicher Pracht,
wenn rings erschallt am Memelstrand
der Nachtigallen Lied
und ob dem fernen Dünenstrand
die weisse Möwe zieht:
dann überkommt mich solche Lust,
dass ich's nicht sagen kann,
ich sing ein Lied aus voller Brust,
schlag froh die Saiten an.
Und trägst Du auch nur schlicht Gewand
und keine stolzen Höh'n -
Ostpreussen hoch! Mein Heimatland,
wie bist du wunderschön!
Dieses erste Ostpreußenlied schrieb 1884 die
ostpreußische Dichterin Johanna Ambrosius. Sie wurde am 3.
August 1854 in dem kleinen Kirchdorf Lengwethen im Kreise Ragnit
ge boren. Der hochgelegene Ort mit seinen prachtvollen Eichen- und
Nadelwäldern, mit seinen weiten Weizenfeldern prägten
schon dem Kind, der Tochter eines Handwerkers, die tiefe Heimatliebe
zu Ostpreußen ein, die sie ihr ganzes Leben lang empfand.
Johanna Ambrosius wuchs in einfachsten Verhältnissen auf. Ein
eigenes kleines Beet, ein Streifen Erde zwischen den Feldern wurde
von ihr mit ' besonderer Sorgfalt gepflegt. Sie heiratete im Alter
von 20 Jahren einen Bauernsohn Voigt, und führte mit ihm eine
glückliche Ehe, obwohl das Paar nicht mit Glücksgütern
gesegnet war. Es lebte auj einem kleinen Gehöft in Gr.-Wersmeningken,
Kreis Pillkallen. Bezeichnend für ihre Verbundenheit mit dem
Lande sind ihre Worte: "Und wenn ich zehnmal zur Welt käme,
ich wollte nichts anderes sein als eine Landarbeiterin. Meinen schlichten
Grabhügel soll einst weder Denkmal noch Stein zieren, sondern
alle Blumen meines ersten Beetes sollen es schmücken."
Vom hochgelegenen Kirchhof ihres Geburtsortes Umschau haltend, offenbarte
sich ihr die herbe Schönheit der ostpreußischen Heimat,
die ihr von dieser Zeit her stets in Erinnerung blieb. Sie schenkte
ihr die ersten Verse, die sie ohne jede Kenntnis von Form und Rhythmus
niederschrieb. Sie samelte diese Blätter, ohne ihnen eine größere
Bedeutung beizulegen und ohne an eine Veröffentlichung zu denken.
Aber dann entdeckte Professor Carl Weiß-Schrattental das Talent
der volkstümlichen Dichterin und setzte sich für die unbekannte
und bescheidene Frau ein. Durch Subskription erschien 1894 eine
erste Gedichtsammlung, die im Laufe der Jahre eine Auflage von 50
000 Stück erreichte, so daß sich daraufhin auch ihre
materiellen Verhältnisse etwas erfreulicher gestalteten. Der
zweite Band ihrerGedichte wurde 1897 herausgegeben. Der erste Band
wurde sogar ins Englische übersetzt. Im Sommer 1900 starb ihr
Mann, sie folgte dann ihrem Sohne, den sie zum Lehrerberuf hatte
vorbereiten lassen, nach Königsberg, wo sie bis zu ihrem Tode
im Jahre 1938 einen geruhsamen Lebensabend in regem Gedankenaustausch
und umfangreichem Briefwechsel mit zahlreichen Freunden und Verehrern
ihrer Dichtung verbrachte. |
unbekannt
(hvp (G.S.)
DasOstpreußenlied
Von einer Bäuerin gedichtet
Zeitung unbekannt
März 1969
Faksimile
anschauen
zum Kopf der Seite |
zum Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
|
"Wo solche Blume aufblüht im Osten Deutschlands, da ist
heiliger Boden. Die Aufgabe der Völker ist, die herauszufinden,
die das Beste tun, denken und aussprechen."
Dieses Leitwort gab um die Jahrhundertwende Hermann Grimm, der Sohn
des Dichters Wilhelm Grimm, seinem Vortrag über die dichtende
Bäuerin Johanna Ambrosius, die plötzlich berühmt
geworden war. Unversehens riß sie das Schicksal aus ihrer
ärmlichen Umgebung in eine andre Welt. Die Presse feierte sie
überschwenglich! Natürlich konnte bei diesem Überschwang
ein Rückschlag nicht ausbleiben. Bald, nachdem sie im Berliner
Presseverein ihre Gedichte vorgelesen hatte, war bei den raschlebigen
Großstädtern die Sensation der dichtenden. Bäuerin
vergessen. Aber es kam bei ihr keine Verbitterung auf. Mit Humor
schreibt sie später einmal, als sie aus ihrem Leben erzählt:
"Als alte Köchin weiß ich längst, das Lorbeerblatt
ist bitter."
Viele werden nun fragen: Wer ist Johanna Ambrosius? Vielleicht erinnert
sich der eine oder andre an das bekannte Ostpreußenlied, dessen
Verfasserin sie war und das später - wie noch manches andre
ihrer Gedichte, vertont wurde.
Sie wurde in dem kleinen, ostpreußischen Dorfe Lengwethen
geboren.
Das zierliche Mädchen mußte von früher Jugend an
hart arbeiten, aber die stille Schönheit Ostpreußens,
die herrlichen Eichen und die dunklen Tannenwälder, eingerahmt
von großen Weizenfeldern, prägten ia Ihre Seele schon
fühzeitig die Verbundenheit mit ihrer Heimat. Das Kind und
junge Mädchen war manchmal ganz eingesponnen in seltsame Träume,
die ihm eine glänzendere Welt versprachen. So führte sie,
kaum erwachsen, ein starkes Lebensverlangen in eine größere
Stadt Aber das Heimweh war stärker. Sie kehrte heim und heiratete
den Bauernsohn Voigt, mit dem sie ein arbeitsreiches Leben auf einem
einem ganz bescheidenen Grundstück führte.
Trotz des Glücks das sie in dieser Ehe
fand, lastete der Alltag manchmal.schwer auf ihr. In diesen Stunden
entstanden jene sehnsuchtsvollen Lieder, die ihr gutes Gedächtnis
oft lange aufbewahren mußte, ehe sie Zeit fand, sie aufzuschreiben
In keinem ländlichen Haushalt Ostpreußens fehlte damals
der Webstuhl und Spinnrocken, und auch in ihrem Hause wurde fleißig
Flachs und Wollegesponnen. Johanna erzählt einmal: "Wenn
ich die Finger blutig gesponnen, und die gewisse Anzahl Stücke
am Nagel hingen, erstdann fand ich Zeit für m ich." Man
trifft wohl in manchen ihrer Gedichte einen leichten Hang zur Schwermut,
aber niemals etwas Lebensverneinendes oder gar Krankhaftes. Im Gegenteil
- sie empfand das Leben als ein Glück -ein Wunder! Viele ihrer
Gedichte haben einen ganz eigenartigen Reiz..
Immer wieder schildert sie die Schönheit lihrer Heimat, ihr
kleines Haus und die Ereignisse in ihrem Dorfe. Nicht jeder ihrer
Verse erträgt unter die Lupe literarischer Kritik gelegt zu
werden,aber sie weiß alle Saiten des menschlichen Lebens anzuschlagen,
all ihre Worte entspringen einem reinen Gefühl. Wir haben es
bei dieser einfachen Frau mit einem ursprünglichen Talent zu
tun. Sie ist eine Dichterin von ausgeprägter Eigenart, niemals
sentimental, sondern stets findet sie echte und reine Töne.
Die Liebe zur Landwirtschaft war neben ihrer poetischen Begabung
das stärkste Gefühl. Einmal schreibt sie: "Wenn ich
noch einmal zur Welt käme, wollte ich doch , nichts anderes
sein als eine Landarbeiterin. Meinen bescheidenen Hügel soll
weder Denkmal noch Stein zieren, sondern nur alle Blumen meines
ersten Beetes sollen es schmücken."
Allen denen, die zu ihrer ostpreußischen; Heimat gehören,
hat sie sich mit ihrem Ostpreußenlied ins Herz geschrieben,
und so wird sie auch in der heutigen veränderten Welt in diesem
Liede immer lebendig bleiben.
Versäumtes
Glück
Mir zog das Glück vorüber
Mit seiner vollen Fracht
Ich sah sie weithin schimmern
Die märchenhafte Pracht
Der Fuhrmann wollte halten
Mein Herze klopfte schwer
Schon reck ich aus die Hände
da war die Stelle leer
Ich sah ihn in der Ferne
Hinjagen wie der Wind
Nun sitze ich am Wege
und weine mich fast blind.
Johanna Ambrosius |
Käte
Dörken
"Das Lorbeerblatt ist bitter..."
Eine ostpreußische Bäuerin dichtete
Jahr unbekannt
Zeitung unbekannt
dieses Foto
von Johanna und ihrer Tochter Marie wurde im Artikel veröffentlicht
zum Kopf der Seite |
zum
Kopf der Seite
zum Kopf der Seite
|
|